Traditions-Restaurant Brüderlin ist geschlossen

Jutta Marko leitete fast 40 Jahre das Brüderlin. Foto: Meier

Jutta Marko verabschiedete sich Ende Oktober als Wirtin des Brüderlins. Seit 1984 leitete sie das Gasthaus, die ersten Jahre mit ihrem Ehemann. In der Tradition ihrer Großeltern und Eltern steuerte sie das Lokal fast 40 Jahre in ungebrochener Beliebtheit.

Mit ihrem Rückzug vom Brüderlin endet eine Ära. Jutta Marko hat den Gästen einen Raum gegeben, in dem man ganz selbstverständlich Gemeinschaft pflegen konnte, in dem man behaglich essen, trinken, diskutieren, feiern, zusammensitzen konnte. Es wird nicht nur die jahreszeitlich geprägte Speisekarte fehlen, die behagliche Stube voller Erinnerungsstücke, die selbstverständliche Anlaufstelle in der Altstadt – eine Institution in Gernsbach, die Historie und Gegenwart so gastlich verbindet. Dieser Ort bot etwas Unverwechselbares, ein Ort mit eigener Geschichte. Das Brüderlin diente nicht nur dem Konsum, sondern der menschlichen Begegnung. Es herrschte in den Stuben eine stimmige Atmosphäre, der man sich nicht entziehen konnte, eine belebende Mischung von Stammtisch- und Speiselokal.

Den Abschied hatte sich Jutta Marko nicht leicht gemacht, die Entscheidung seit Jahren vor sich hergeschoben. Sie gibt unumwunden zu: „Wenns nicht so viele schöne Stunden gegeben hätte, hätte ich viel früher aufgehört.“ Dabei konnte sie auf den Rückhalt der Familie setzen. Bruder Ernst-Ludwig Singer stand ihr stets tatkräftig zur Seite. Sohn Sigi und Tochter Manuela kamen zu besonderen Anlässen in den letzten Jahren, um ihr unter die Arme zu greifen.

Einen tiefen Einschnitt schuf die Corona Krise. Doch auch in diesen schwierigen Jahren wollte Jutta Marko nicht die Flinte ins Korn werfen. Nun ließen ihr die gesundheitlichen Einschränkungen und die Personalenge ihr nun keine andere Wahl. Mit den Ansprüchen an eine angemessene Weiterführung des erreichten Standards habe sich auch kein Nachfolger gefunden.

Das Brüderlin in einer Zeichnung von 1889.

Als Jutta Marko ihr Lokal zu Ende Oktober 2023 schloss, verloren auch 13 Mitarbeiterinnen aus sechs Nationen ihren Arbeitsplatz. Doch sie fallen nicht ins Leere, durch die langfristige Ankündigung der Beendigung des Betriebs konnten die Kräfte angemessene neue Stellen finden. Schließungen sind derzeit im Gastgewerbe kein Einzelfälle. Deutschlandweit haben sich die Anzahl der Gasthöfe von 2014 von 14.700 auf 9.100 Betriebe im Jahr 2021 verringert. Das sind fast 40 Prozent! Und die Zahl wird weiter zurückgehen. „Neben dem wechselhaften Wetter stellten 64,5 Prozent der Betriebe einen Rückgang der Gästezahlen wegen der zunehmenden Konsumzurückhaltung fest“, bestätigt der Verband des Deutschen Hotel und Gaststätten Verbandes. Dazu kommen noch die Kostenexplosion in den Bereichen Lebensmittel und Energie, Personal und die zunehmende Bürokratie, und die Sargnägel für die Gastronomie sind geschmiedet. Die Verbandsworte: “Wenn noch mehr Restaurants und Cafés verschwinden, würde der Verödung von Innenstädten weiter Vorschub geleistet werden,“ lassen sich in Gernsbach auf einen einfachen Nenner bringen: Wenn das Brüderlin als Gaststätte die Tür schließt, ist eine bedeutende Attraktion der Altstadt verloren.

Die Concession vn 1892 mit Brandweinausschank. Quelle: Famiienarchiv Brüderlin

Großvater Ernst Brüderlin übernahm 1892 das Gasthaus in der Hauptstraße. Er begründete den Betrieb einer Schankwirtschaft mit Branntweinausschank. Nach seinem Tod 1928 führte Ehefrau Julie das Gasthaus weiter. Die Zeiten des Zweiten Weltkriegs und die Nachkriegszeit waren für die Wirtsfrau und deren Tochter Julchen nicht einfach. Nach der Hochzeit von Julchen Brüderlin mit Siegfried Singer, der vom Hotel Löwen in Gernsbach rechts der Murg auf die andere Murgseite wechselte, führten sie die „Restauration Brüderlin“ weiter.

Deren Tochter Jutta trat wie selbstverständlich in die Fußstapfen ihrer Eltern und Großeltern. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Wolfgang Marko übernahm sie 1984 das Ruder in der Wirtschaft. Anfänglich war noch Vater Siegfried im Hintergrund aktiv, Mutter Julchen war bis ins hohe Alter immer im Gastraum präsent.

Historische Postkarte des Brüderlin. Quelle: Stadtarchiv Gernsbach

Jutta Marko setzt die Reihe der „starken Frauen des Brüderlin“ fort. Ihre Lehrzeit als Köchin absolvierte sie im Gasthaus Nachtigall, das damals für Wildgerichte einen hervorragenden Namen hatte. Nach ihrem weiteren beruflichen Weg im Badischen Hof Steigenberger, Baden-Baden, wo sie ihren späteren Ehemann kennenlernte, erreichte sie den Gesellenbrief mit der stolzen Note von 1,0. Doch fand sie trotzdem keine geeignete Stelle. „Damals traute man Frauen noch nicht Spitzenpositionen in der Gastronomie zu“, bekennt sie in der Rückschau.

Jutta Marko hatte immer ein Auge auf die Stadtgeschichte Gernsbachs. Hier ein Tuch aus dem Jahr 1953 mit Gernsbach-Motiven. Foto: Meier

Jutta und ihr Mann Wolfgang haben das Lokal  gewandelt. Das Ambiente behielten sie bei, die behagliche Ausstattung mit alten Stichen und historischen Ansichten von Gernsbach und Gernsbachern an den Wänden wurde weitergepflegt. Sie haben sie die Entwicklung vom Vesperlokal zum Speiselokal geschafft, wo abwechslungsreiche und saisonale Kost selbstverständlich ist. Damals wurde die täglich wechselnde Tageskarte entwickelt, nicht nur wöchentlich, wie Jutta Marko im Gespräch betonte. „Wo wird denn noch die Brühe für Suppen und Soßen selbst gekocht“, gab Ernst-Ludwig Singer bei einem Gespräch am Vormittag mit Blick in die Küche und die dampfenden Kesseln zu bedenken.

Jutta Marko hat nach dem überraschenden Tod ihres Mannes vor 23 Jahren wie selbstverständlich weitergemacht. So wurde die Gaststube zur Kinderstube ihrer Tochter Manuela und Sohn Sigi. Überhaupt fühlte man sich in der Gaststube wie in der guten Stube der Familie. Gasthaustür war auch gleichzeitig Haustür.

Wer hier eintrat, war nicht in Eile, wollte nicht einen schnellen Durst löschen oder im Stehen etwas essen. Gemächlicherer Rhythmus war angesagt.

Im Brüderlin fühlte man sich immer willkommen, gleichgültig, um welche Uhrzeit man kam oder mit wieviel Personen. Wenns ein paar mehr Leute waren, als an einen Tisch passten, wurde kurzfristig umgestellt. Unvergessen werden die vielen Nachmittagskaffees sein, in denen man nach einer Beerdigung zusammenkam. Bei diesen Anlässen wurde ganz deutlich: das Wesentliche ist das Gespräch, das Miteinander, auch in schweren Situationen.

Im Brüderlin waren sie alle zuhause: Die traditionsreichen Stammtische, die sich turnusgemäß trafen, die Puppentheater-Künstler, die Wingolfiten bei ihren Gernsbach-Treffen, die Fasentgruppen, die Feuerwehr-GruppenProbe, die Sport- und Kulturvereine. Hier wurde Partnerschaft zu Baccarat mit Leben gefüllt und über das bisschen Rauch der brutzelnden Merguez während des Altstadtfestes gelächelt.

Jutta Marko vor dem Plakat von 1977. Foto: Meier

Das Plakat „Wer Gernsbacher nicht gern hat, kann Gernsbacher gern ho“ grüßt seit über 40 Jahren im Eingangsbereich. So viele andere Kleinode finden sich an den Wänden, auf Fotos, auf den Simsen, in den Regalen. Doch dies ließe sich ja alles verschmerzen, wenn das „Brüderlin“ nicht mehr wäre als ein Raum mit vielen alten Fotos und guter Küche. Es ist das Lächeln und Willkommen von Jutta Marko, ihre unbeugsame Art, sich von Widrigkeiten nicht gleich den Wind aus den Segeln nehmen zu lassen, den Freuden und Sorgen ihrer Gäste zuzuhören, eine bodenständige Antwort parat zu haben – all das wird fehlen.

Jutta Marko und ihr Bruder können sich noch gar nicht vorstellen, wie die Zeit nach der Schließung aussehen wird. Zu tief war in den letzten Jahren der Tages- und Jahresablauf auf die Gastwirtschaft ausgerichtet. Auf jeden Fall will sie sich ihren Wunsch erfüllen, Veranstaltungen in Gernsbach zu besuchen und mal am kulturellen Leben in Gernsbach teilzunehmen – diesmal nicht hinter der Theke. Mit einem herzlichen Dank an die Familie, an alle Vereine, Gruppen und Familien, die oft über Generationen die Treue zum Brüderlin gehalten haben, blättert sie gedankenversunken durch das Erinnerungsbuch. 

Bei den vielen Abschieds-Essen, die in den letzten Wochen vor der Schließung stattfanden, stand ein Thema im Mittelpunkt. „Wo treffen wir uns nach dem 30. Oktober?“ Und die Gäste, die an den runden Tischen mit ihrem prägnanten Holzplatten zusammenkamen, stellten plötzlich fest, dass das Brüderlin mehr war als ein Ort der guten Küche und zentralen Lage. Man kam hier zusammen und knüpfte oft längst verlorene Fäden. Nachbarn, die sich schon lange nicht mehr getroffen hatten, ehemalige Schulkameraden, die sich fast nicht mehr erkannten, Vereinskollegen, die man sonst nur im Vorbeigehen kurz grüßt, waren hier für ein gemütliches Gespräch offen. Nicht der Tresen wie in den modernen Kneipen ist der Mittelpunkt, sondern der Tisch aus massivem Holz. Nicht das Kommen und Gehen machte die Seele des Lokals aus, sondern das Sitzen und Zusammensein.

Jutta Marko blättert in dem Abschiedsalbum. Foto: Meier

Eine besondere Geste zum Abschied wurde von den Waldschäddern, Gernsbach, angestoßen. Sie haben eine Art Gästebuch aufgelegt, in denen man ein Grußwort schreiben durfte. Herausgekommen ist eine Sammlung der Wertschätzung der Gäste und Freunde, die sich über Jahre aufgestaut hat und oft nicht zum Ausdruck gekommen ist. Für Jutta Marko und ihre Familie birgt es einen Schatz an Erinnerungen und Dank für die Gastfreundschaft über die vielen Jahre im Haus Hauptstraße 3. Darin wird sicherlich noch lange geblättert und hält die Erinnerung an viele Gäste und Begegnungen wach. „Dies Gasthaus bleibt unvergessen / in den Annalen dieser Stadt / ist ihm ein fester Platz bemessen“, lautet ein Gedichtzeile in dem Buch. 

Ein persönlicher Abschiedsgruß von meiner Seite: In meinem Gernsbach-Mosaik fehlt zukünftig ein Stein. Ich freue mich für Jutta, dass sie eigenbestimmt ihren weiteren Lebensabschnitt gestaltet und sehe den zukünftigen Begegnungen entgegen.

Regina Meier

Der letzte Abend im Brüderlin: 30. Oktober 2023. Foto: Meier

 

Der Artikel erscheint im Gernsbacher Bote 4/2023, Erscheinungstermin: 28. November 2023