„Geschichte in Schichten“ – Die Heilige Anna aus Gernsbach

Die Statue der Heiligen Anna aus Gernsbach wird derzeit einer gründlichen Untersuchung in den Werkstätten des Landesamtes für Denkmalpflege in Esslingen unterzogen. Dabei kommt unter den zahlreichen Malschichten eine anmutige Figur zutage, die allerdings durch die Witterungseinflüsse stark gelitten hat und über die Jahrhunderte so manche Überarbeitung erfahren hat. Bei einem Besuch von Mitgliedern des Arbeitskreises Stadtgeschichte  und Dominic Breyer, Vertreter des Stadtbauamtes Gernsbach, erhielt die Gernsbacher Delegation im Januar 2024 eine umfassende Darstellung der bisherigen Ergebnisse.

Im Mai 2023 wurde die Heilige Anna von ihrem Sockel vor dem Alten Rathaus gehievt und sorgfältig verpackt nach Esslingen gebracht. Dr. Dörthe Jakobs, Hauptkonservatorin und Leiterin Fachgebiet Restaurierung am Landesamt für Denkmalpflege, und Roland Lenz, Professor für Konservierung und Restaurierung von Wandmalerei, Architekturoberfläche und Steinpolychromie von der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart, haben die Statue angenommen und die wissenschaftliche Inspektion zugesagt. Bereits diese Zusage ist schon ein Beweis, dass die Denkmalpflege die Figur der Heiligen Anna zum wertvollen Kulturdenkmalbestand des Landes zählt.

Zwei Masterstudierende, Leandra Schöll und Benno Stadtherr, haben sich in den vergangenen acht Monaten intensiv mit der Heiligen Anna auseinandergesetzt und ihre Masterarbeit dieser Figur gewidmet. Dabei haben die beiden Absolventen in ihren akribischen Recherchen bedeutende Ergebnisse zutage gefördert. In den Werkstätten des Landesamt für Denkmalpflege in Esslingen stehen den beiden Masterstudierenden die modernsten Untersuchungs-Möglichkeiten zur Verfügung.

Fesselnd und verständlich aufgearbeitet konnten die beiden Studierenden die fachlich fundierte Analyse Besuchern und Fachleuten präsentieren. Selbst für Laienblicke ist der erhebliche Material- und Substanzverlust an den Fassungen der Figur offensichtlich. Verwitterungen liegen vor, in mehreren Probeentnahmen konnten die Schäden in den einzelnen Bereichen der Figur nachgewiesen werden. Anhand von hauchdünnen Entnahmen, welche mit dem bloßen Auge fast nicht sichtbar sind, konnten sie die Risse in den Malschichten, den biogenen Bewuchs und Mikroorganismen nachweisen. Aus einer winzig kleinen Probe wurde in der Werkstatt eine großformatige Aufnahme auf die Leinwand projiziert.

Anschaulich verdeutlicht die Ausführungen die „Malschichtschollen“ oder die „Verunklärung des Steinschnitts“. Anhand eines Stratigraphie-Profils zeigten die Studierenden die Gemeinsamkeiten von Postament, Säule und Skulptur. Weitere Probeentnahmen aus der Säule und dem Podest, auf dem die Heilige Anna vor dem Alten Rathaus stand, wurden von Leandra Scholl und Anna Lisa Krautheimer, der Betreuerin der Masterarbeit und Akademische Mitarbeiterin des Lehrstuhls Restaurierung, bei einer weiteren Exkursion nach Gernsbach, gemacht. Außerdem wurden die angrenzenden Häuserwände untersucht. Dabei wurden weitere erstaunliche Zusammenhänge deutlich herausgearbeitet.

Quelle: Stadtarchiv Gernsbach

Die Geschichte der Statue der Heiligen Anna liegt im Dunkeln. Dr. Cornelia Renger-Zorn, Gernsbach, hat bei ihren Recherchen zu dem Ebersteiner Vogt Bitzberger durch intensives Quellenstudium herausgefunden, dass der Ebersteiner Vogt diese Heiligenfigur zu Beginn des 18. Jahrhunderts vor seinem Haus aufstellen ließ. Er hatte seinen Sitz direkt neben dem Alten Rathaus. Noch auf Postkarten, die vor etwa 100 Jahren gedruckt wurden, zeigt sich, dass die Figur einst direkt vor dem Gebäude Hauptstraße 15 stand (dem heutigen Optikergeschäft Knapp). Durch das Anlegen eines breiteren Gehwegs und dem Entfernen eines zusätzlichen Eingangs rutschte die Figur mitsamt Sockel und Podest in die Hausnische zum Alten Rathaus und beförderten weiter die Witterungsschäden.

Einziger Lichtblick in der gesamten Schadensanalyse der Heiligenfigur war in der Präsentation die Aussage, dass der Sandstein selbst, aus der die Figur gefertigt ist, in einem guten Zustand ist. Allerdings sind Kittungen notwendig. Nachweisbar ist , dass die einzelnen Malschichten, wobei die Studierenden insgesamt 24 Schichten gezählt haben, erhebliche Schäden aufweisen. Sie stießen bei ihrer Untersuchung auch auf die ältesten Schichten und stellten zuunterst eine monochrome Fassung fest. Die ursprüngliche Fassung aus dem frühen 18. Jahrhundert war wohl eine Smaltefassung, für damalige Zeit typisch. Für Professor Lenz ist die Heilige Anna aus Gernsbach ein faszinierendes Beispiel, wie sich „Geschichte in Schichten“ darstellt.

Einig sind sich die Fachleute, dass es sich bei der Heiligen Anna aus Gernsbach um eine außergewöhnliche Figur handelt, deren Grazie bislang durch die zahlreichen Malschichten nicht in vollem Umfang zur Geltung kommt. Sie ist mit einem Strahlenkranz ausgestattet, der ebenfalls stark gelitten hat und den die Studierenden eingehend betrachtet haben. Dank aufmerksamer Gernsbacher konnten die ausgebrochenen Teile gefunden werden und werde wohl eines Tages wieder in den Kopfschmuck eingefügt werden. Auch das Buch, das die Figur in Händen hält und das prägnante Merkmal für die Heilige ist, hat stark gelitten. Wohl ist schon in der ersten Fassung aus dem frühen 18. Jahrhundert dieses Buch mit einer Goldfassung versehen. Ein ungewöhnliches Merkmal der Gernsbacher Anna ist die großformatige Sonne auf der Brust. Diese gehört nicht zu der typischen Ikonographie der Heiligen, macht dieses Kunstwerk allerdings zu einem unverwechselbaren Werk.

Eine mögliche Restaurierung von Figur, Postament und Säule bedarf erfahrener Fachleute, denn die Aufarbeitung verlangt wohl das ganze Können der Restauratoren-Zunft ab. Selbst für die derzeitige Prozess bedarf es das Zusammenspiel mit weiteren Fachleuten. Dies ist in den Werkstätten des Denkmalamtes möglich. So ist auch Teresa Kolar, Steinrestauratorin beim Landesamt für Denkmalpflege und Restauratorin für Wandmalerei und Architekturoberflächen, in die Arbeiten eingebunden. Interessant ist auch das unterschiedliche Alter und das Zusammenspiel von Podest und Säule, auf der die Heilige Anna bisher stand, insbesondere im Kontext der Architektur, wie Dr. Dörthe Jakobs vom Landesamt für Denkmalpflege, bei dem Besuch der Gernsbacher ausführte.

Für die Heilige Anna und die Stadt Gernsbach als Eigentümerin ist die umfassende Betrachtung in den Werkstätten des Landesamtes ein Glücksfall, denn für die Stadt fallen lediglich die Kosten für den Transport von Gernsbach nach Esslingen an. Dieser war wohl recht aufwändig, damit die historische Kleinod keinen Schaden davonträgt.

Die Studierenden wurden bei der Präsentation auch nach ihrer Einschätzung gefragt, wie eine Restaurierung aussehen könnte. Doch dazu muss die gesamte Untersuchung vorliegen. Mit bedacht werden müssen dabei natürlich auch die Kosten, denn die Restaurierung muss in einer Fachwerkstatt erfolgen. In Zeiten der Flaute in den öffentlichen Geldtöpfen werden dabei sicher auch Spendenaktionen vonnöten sein. Für den Erhalt und Wiederkehr in die Murgtalgemeinde, in der die Heiligenfigur seit über 300 Jahren ihren Platz hatte, ist da Ideenreichtum und Engagement gefragt. Die einzelnen kleineren bisherigen Aktionen aus der Bürgerschaft, der Jan-Brauers-Stiftung und dem Arbeitskreis Stadtgeschichte muss ein Gesamt-Konzept folgen, das auch die Möglichkeit des Crowd-Funding einbeziehen sollte.

Für die Studierende stellt die Heilige Anna aus Gernsbach nicht nur in technischer Sicht eine Herausforderung dar. Ihre Arbeit trägt den Titel „Untersuchung und Entwicklung eines Konservierungs- und Restaurierungskonzepts für Postament, Säule und Skulptur“. Somit geht ihre Aufgabe über die reine Schadensaufnahme hinaus. Dies trägt der modernen Denkmalpflege Rechnung, die durch ein Umdenken im Umgang mit dem Denkmal gekennzeichnet ist. Zur differenzierten Hochschulausbildung gehört auch die Einbettung in Beratung und Begleitung von Restaurierungsmaßnahmen.

Darüber hinaus ist noch nicht geklärt, was mit der Heiligenfigur geschieht, nachdem sie untersucht und restauriert ist? Wird sie wieder an Ort und Stelle aufgestellt und die Gernsbacherinnen und Gernsbacher hoch oben von ihrem Sockel grüßen? Welche Entscheidung trifft die Gernsbacher Stadtverwaltung zur weiteren Vorgehensweise? Vor allem, in welcher Fassung wird sie sich zukünftig präsentieren? Die Studierenden könnten diese Fragestellungen begleiten und dazu eine Einschätzung abgeben. Für sie zeigt sich an diesem herausragenden Kulturwerk in bester Weise, wie ein Kunst- und Kulturgut mit dem Anspruch seiner Erhaltung zum ständigen Dialog auffordert. Denn mit der Untersuchung und mit der Restaurierung ist es allein noch nicht getan. Nur wenn das Kunstwerk von der Öffentlichkeit angenommen und geschätzt wird, entfaltet es seine wahre Größe.

Für die Stiftung Denkmalschutz, die sich in Gernsbach bereits beim Storchenturm und den Zehntscheuern engagiert hat, gibt es eine klare Maxime: „Denkmale zu schützen bedeutet auch, Geschichte, Geschichten und Zeitgeist an authentischen Orten der Erinnerung lebendig zu halten.“ Mal sehen, wie sich dies an der Figur der Heiligen Anna aus Gernsbach umsetzen lässt.

Regina Meier

Eine Kurzfassung des Artikels erscheint im Gernsbacher Bote 1/2024, Erscheinungstermin: 19. März 2024

Ein Weg voller Sterne in Bühlertal

An diesem ersten Adventswochenende hat alles gepasst. Der erste Schneefall in dieser Saison hat die Höhen des Schwarzwalds in weiß getaucht. Somit war es ein entspannter Ausflug zum Sternenweg in Bühlertal, da wir ihn von Gernsbach aus mit öffentlichen Verkehrsmitteln organisiert hatten.  Vorbei an der Schwarzenbachtalsperre und Herrenwies näherten wir uns über die Schwarzwaldhochstraße dem weihnachtlich dekorierten Ziel.

Schon der Auftakt im ” Haus des Gastes” war ein besonderes Erlebnis. Dort konnte man auch den Stand von Holzbildhauer Simon Stiegeler finden, der mit seinen Kunstwerken wertvolle Impulse für den Sternenweg geliefert hat. Seine Flügelwesen sind auch entlang des Weges zu entdecken.

Der etwa 3-km-lange Weg führt über den Breitmattplatz und der Haabergstraße zum Denkmal mit seinem weiten Blick auf Bühlertal. Seinen besonderen Charme entwickelt der Weg bei Dunkelheit. Rechts und links des Weges sind illuminierte Kunstwerke zu entdecken, aber auch viele ansprechende Dekorationen der Anwohner sowie der eine oder andere Verkaufsstand mit Schnaps oder Gebasteltem. Auch wärmende Getränke in Selbstbedienung laden zum Verweilen ein. Vor einzelnen Laternen findet man handgeschriebene Zitate und Lebensweisheiten auf Metallsternen, Anregungen zum Nachdenken. Besondere Attraktion bieten die Hunderte von beleuchteten Sternen, die an Fassaden, über dem Bachlauf und entlang der Straßen eine anheimelnde Stimmung erzeugen. Kein Wunder benötigten wir viel mehr Zeit, bis alle Kleinode entdeckt waren und mussten uns sputen, um unseren Fahrplan zur Heimfahrt einzuhalten.

Wieder in Gernsbach angekommen, konnten wir noch das 2. Adventsfenster in den Zehntscheuern bewundern. Und wie passend das Motiv zu unserem Ausflug war: die Sternentaler-Sammlerin!

Kalender 2024: Adventure ahead

Das März-Foto bringt Farbe ins Jahr. Die Aufnahme entstand in San Carlos de Bariloche, oder einfach Bariloche genannt. Diese Stadt im Seengebiet Argentiniens bietet eine atemberaubende Natur: Bariloche ist ein Tor zu den Wundern Patagoniens, ob man aktiv radfahren, skifahren, kite-surfen oder wandern will. Eigentlich sind wir an diese Stelle am See gefahren, weil wir Fotos von den Kite-Surfern machen wollten, die hier das Ufer bevölkern. Doch der Wind war eingeschlagen, und so konnten wir uns auf Landschaft und Natur konzentrieren. 

Für uns war Bariloche ein idealer Standort, das neue Jahr einzuläuten. Wenn man nun im März diese Farbenpracht des Dezembers sieht, fühlt man sich gleich wieder zurückversetzt in die Tage in den Ort zwischen den schneebedeckten Bergen und der verträumten Seen.  

Mit Schwung gehts weiter im Jahr 2024. Das Februar-Motiv des Kalenders zeigt eine ganz andere Facette Patagoniens.
In den Bergen Patagoniens gibt es so manche Überraschung. Bei einem Besuch auf dem Vulkan Batea Mahuida nahe Villa Pehuenia  konnten wir Aussichten auf die umgebende Seen genießen: Moquehue and Alumine. Eine Wanderung auf dem Kraterrand des erloschenen Vulkans bescherte uns atemberaubende Perspektiven. Im wahrsten Sinne des Wortes. Und bei der Rückfahrt wurden wir begleitet von einer Gruppe Mountainbiker. Bewundernswerte Leistung.

Das Jahr 2024 hat steil Fahrt aufgenommen. So spaziert dieser kleine Magellan-Pinguin im Nationalpark von Punta Tombo, Argentinien, lieber auf den ansteigenden Planken als im unwegsamen Gelände. Eigentlich sollten diese Holzstege die Besucher davon abhalten, sich zwischen den Nestern der Pinguine zu bewegen, aber darum scheren sich die kleinen, putzigen Meerestiere nicht. Sie sind wohl an Land recht tolpatschig unterwegs, aber im Wasser exzellente Schwimmer. Dieser Weg aus Brettern und Dielen weist immer mal wieder Unebenheiten aus, aber letztlich kommt man damit doch recht gut über die holprigen Unwegsamkeiten hinweg.

Für das Kalendarium des Januar-Kalenderblatts hat Martina die Farben der Holzplanken und des Himmels aufgenommen und mit der Platzierung den idealen Rahmen für das Pinguin-Foto geschaffen.

Adventure ahead

Der Kalender 2024 “Adventure ahead” hat das Motto unserer phantastischen Reise durch Südamerika aufgenommen. Wir waren mit guten Freunden unterwegs in Brasilien, Argentinien, Chile und Uruguay. Die meiste Zeit der 13.000 Kilometer langen Tour führte uns durch Patagonien. Da gabs so manche gemeinsame Abenteuer, auf die wir gerne zurückschauen. Das Titelbild des Kalenders ist auf der legendären Ruta Quarenta aufgenommen, die sich insgesamt über 5.194 Kilometer durch Argentinien zieht. Einige Etappen führten uns auf dieser Straße, die uns durch entlegene Gebiete des riesigen Landes führte. Auch für 2024 sind die nächsten Reisen schon im Blick. Da heißt es dann wieder: Adventure ahead. Auf geht’s! Alles Gute für 2024.

Schicksalsjahr 1923 – Teil 3

Großherzogin Luise (sitzend Mitte) besuchte während des Ersten Weltkriegs ein Lazarett in Gernsbach, das von Johanna und Casimir Otto Katz in Scheuern gestiftet worden war. Foto: Familienarchiv Katz

Großherzogin Luise war im April 1923 im Alter von 84 Jahren verstorben. Zu der Trauerfeier kamen über 30 Vertreter deutscher Fürstenhäuser. Tausende Menschen zogen an dem Sarg vorüber, um Abschied von der Landesmutter zu nehmen. Nur wenige Glocken läuteten beim Trauerzug zur Grabkapelle des Großherzoglichen Hauses in Karlsruhe . Das lag aber nicht an Anordnungen der demokratisch gewählten Landesregierung, sondern schlichtweg am Fehlen der Glocken, die während des Ersten Weltkriegs eingeschmolzen und noch nicht ersetzt worden waren. Auch in Gernsbach trauerte man um die einstige Landesherrin, war sie doch mehrfach in Gernsbach zu Besuch gewesen. Noch während des Ersten Weltkriegs hatte sie ein Lazarett in Scheuern besucht, das von Johanna und Casimir Otto Katz gestiftet worden war.

Bürgermeister Georg Menges

Im Jahr 1923 war Georg Menges Bürgermeister der Stadt, sein Amtssitz war das Alte Rathaus am Marktplatz.[i] Er war 1919 der erste demokratisch gewählte Bürgermeister sowie der erste „Berufs-Bürgermeister“, zuvor übten die Stadtoberhäupter ihre Aufgabe als Teilzeitbeschäftigung aus. Im zur Seite stand der demokratisch gewählte zehnköpfige Gemeinderat. 1923 waren darin die Zentrumspartei,die Sozialdemokratische Partei (SPD), die Deutsche Demokratische Partei (DDP) und Deutschnationale Volkspartei (DNVP) vertreten.[2] Außerdem gab es den Bürgerausschuss mit 48 Mitgliedern, eine weitere lokalpolitische Einrichtung.

Georg Menges erhielt das Bundesverdienstkreuz. Quelle: Landesarchiv Baden-Württemberg, Staatsarchiv Freiburg W 134 Nr. 067969a

Bürgermeister Menges hatte das Amt bis 1933 inne. Da wurde er auf Anweisung des Reichskommissars Robert Wagner (NSDSAP) in Schutzhaft genommen und musste „aus politischen Gründen“ das Amt niederlegen. In dem gegen ihn eingeleiteten gerichtlichen Verfahren wurde er wohl freigesprochen, doch in ein öffentliches Amt ließen ihn die Nationalsozialisten nicht zurückkehren. Gleichzeitig musste er seine Dienstwohnung in der Badner Straße 2 räumen. Mit seiner Frau Anna, geborene Wallraff, die er 1922 geheiratet hatte, und seinen Kindern zog er nach Freiburg. Anna Wallraff war die Tochter von Anna und Friedrich Wallraff, Wirt und Metzger in der Waldbachstraße. Erst 1946 übernahm er wieder öffentliche Ämter und gehörte von 1953 bis 1960 dem Landtag Baden-Württemberg an.[3]

1952 erhielt er das Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. In dem 2019 veröffentlichten „Gedenkbuch Politisch Verfolgte Abgeordnete 1933-1945“ ist ihm ein Eintrag gewidmet.

Noch weiteres Notgeld

Aufwändig gestalteter 10 Milliarden Schein aus dem Jahr 1923. Quelle: Stadtarchiv Gernsbach

Die galoppierende Inflation des Jahres 1923 ließ auch die Druckmaschinen für Banknoten auf Hochtouren laufen. So kam auch Gernsbach zu individuellen Noten, die immer höhere Nennbeträge auswiesen. Im September 1923 stellte die Lokalzeitung „Der Murgtäler“ den neuen 10-Milliarden-Mark-Geldschein ganz detailliert vor mit Schloss Eberstein in der Mitte, umrahmt von einem Ebersteiner Grafen mit einem Pokal und einem Weinfass, mit dem Pokal in der Hand, und einem biederen Bürger (der Ähnlichkeit mit dem Stadtoberhaupt hatte) mit einem Krug Murgwasser.

 

Die Spruchbänder darauf sagen: „Den Ebersteinern half der edle Schloßbergwein, dagegen uns nur noch der Nullenschein.“ „Der Sprung zur Tiefe rettet einst den Grafen kühn, wann wird der Marksprung aufwärts uns aus der Papierflut ziehn?“

Aufnahme am Marktplatz: Inflationsjahrgang 1923. Zu Erkennen sind auf dem Foto: Herbert Fischer, Reinhold Hartmann, Reinhold Hellmann, Fritz Meixner, Werner Rothfuß und Albrecht Wenk. – Quelle: Stadtarchiv Gernsbach. Nachlass Franz Chemelli

Doch kaufen konnte man sich für diesen graphisch gelungenen Geldschein nicht viel: Bei der Herausgabe kostete eine Butter 8 Millionen Mark, ein Roggenbrot 500.000 Mark und ein Ei 250.000 Mark – und auch diese Preise waren nicht lange stabil. Erst mit der Umsetzung der Währungsreform endete der Spuk der Hyperinflation und es herrschten wieder reelle Preise.

In späteren Jahren karikierten die Gernsbacher dies: So wurden in einem Umzug mit Schulkindern des Jahres 1923 diese als „Gernsbachs Inflationsjahrgang“ beschrieben.

Hitler-Putsch am 9. November 1923

Zu Ende des Jahres 1923 spitzte sich nicht nur die Inflation zu, sondern auch die politische Situation in Deutschland entwickelte sich dramatisch.  Am Freitag, 9. November 1923 versuchte Adolf Hitler in München zum ersten Mal, politische Macht zu erlangen. Auch wenn sein Putschversuch niedergeschlagen wurde, so war er doch Vorbote für die Entwicklung des nationalsozialistischen Deutschlands.

 

Titelseite des “Murgtäler – Gernsbacher Tageblatt” vom 9. November 1923: Preßzensur. Quelle Archiv des Landkreises Rastatt

In Gernsbach kamen die Nachrichten von dem Hitler-Putschversuch umgehend an. Bereits in der Freitagsausgabe der Lokalzeitung „Der Murgtäler/Gernsbacher Bote“ spiegelten sich die sich überschlagenden Ereignisse wieder. So erschien der „Murgtäler“ am 9. November 1923  mit einer weißen ersten Seite: „Pressezensur“. Als Adolf Hitler am Morgen des 9. November mit seinen Anhängern zur Feldherrenhalle marschierte, hatte er noch die vage Hoffnung, dass er die öffentliche Meinung auf seine Seite ziehen konnte. Doch nach einem Handgemenge, das mit einem Feuergefecht endete und 14 Tote forderte, wurde der Putschversuch niedergeschlagen. Bereits  am Samstag, 10. November 1923 verkündete der Murgtäler/Gernsbacher Bote „Hitler-Putsch zusammengebrochen“… „Ein schnelles Ende“.

Ende der Flößerei

Eine Epoche ging 1923 formell zu Ende. Am 25. September 1923 verkündete ein Erlass des badischen Arbeitsministers das Erliegen der Flößerei auf der Murg. Faktisch ruhte schon seit 1913 die Flößerei vollständig, das letzte Floß der Murgschiffer ist wohl bereits 1896 die Murg hinunter geschwommen. Die wirtschaftlich an Bedeutung zunehmende Papier- und Holzindustrie kämpfte um die zur Verfügung stehenden Wasserkräfte. Die Entwicklung war unaufhaltsam. Seit 1895 hatte der Floßbetrieb stark abgenommen. Waren es in den Jahren 1886 bis 1895 noch jährlich etwa 640 Floße, die die Murg hinunterschwammen, so waren es in den Jahren bis 1905 nur noch 14 Floße jährlich, ab 1907 werden keine Floße mehr gezählt. Gegen die Aufhebungsverfügung von 1923 wird von Seiten der Industrie noch Einspruch beim Staatsministerium eingelegt, der jedoch verworfen wird. Das Amt erwiderte: „Die Erweiterung des Straßen- und Eisenbahnnetzes und die Verbesserung der Transportmittel (Kraftwagen) … haben das Flößen … vollständig verdrängt.“[4] Hinzu kam der Bau des Murgkraftwerkes und der Schwarzenbachtalsperre 1922.

Ölberg in Reichental

Der Ölberg in Reichental wurde 1923 geschaffen. Foto: Pirmin Sieb

Ein lokales Ereignis 1923 gab besonders in Reichental Anlass zur Freude. Nach langen Planungen wurde die Idee von Pfarrer Ludwig Popp umgesetzt. Am Ortseingang von Reichental wurde ein „Ölberg“ angelegt und mit einer 2,40 Meter hohen Christusfigur und einem ähnlich großen Engel mit Kelch markant gestaltet. Damit sollte an einer gut sichtbaren Stelle an die Opfer des Ersten Weltkriegs erinnert werden und ein Mahnmal für den Frieden und für die Verständigung der Völker geschaffen werden. Auch dieser Auftrag wurde durch die Inflation beeinflusst. So wurden der beauftragte Bildhauer Roland Martin aus Offenburg teils mit Naturalien vergütet, überliefert ist Bienenhonig und Tresterschnaps.

So manches Ereignis von 1923 wurde in diesem Jahr wieder lebendig und wurde in den letzten drei Ausgaben des „Gernsbacher Boten“ aufgegriffen. Auch die erst kürzlich stattgefundene 100-Jahr-Feier in Reichental beim Ölberg gestattete einen weiteren Rückblick in die Zeit vor einem Jahrhundert. Die Sammlung von Inflations-Geld aus dem Stadtarchiv präsentierte der Arbeitskreis Stadtgeschichte anlässlich des Tag des offenen Denkmals im Storchenturm. Im Rahmen des Vortragsabends zum 9. November, dem Schicksalstag der Deutschen, im Kornhaus wurde auch an den 9. November 1923 in München und vor Ort erinnert. Bei der Spurensuche von zwei Amerikanerinnen, die in diesem Sommer auf den Spuren ihres 1923 ausgewanderten Großvaters nach Gernsbach kamen, wurde die ganze wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation vor 100 Jahren aufgearbeitet. Spätestens dann wurde klar, die die sogenannten goldenen zwanziger Jahren viele Schattierungen hatten.

Regina Meier

[1 Martin Walter, Prägende Jahre zwischen den Kriegen 1914-1945, in: „800 Jahre Gernsbach – die Geschichte der Stadt“, Gernsbach 2019, Seite 203ff.

2] Der Murgtäler vom 22. Januar 1923, IMG 7875, eingesehen im Archiv des Landkreises Rastatt

[3] https://www.landtag-bw.de/contents/gedenkbuch/abgeordnete/VA_Menges%2c%20Georg%20(Jakob)~402.html abgerufen 25.10.2023, 12.10 Uhr

[4] Max Scheifele, Die Murgschifferschaft, 1988, Seite 399

 

Der Artikel erscheint im Gernsbacher Bote 4/2023, Erscheinungstermin: 28. November 2023

 

 

Traditions-Restaurant Brüderlin ist geschlossen

Jutta Marko leitete fast 40 Jahre das Brüderlin. Foto: Meier

Jutta Marko verabschiedete sich Ende Oktober als Wirtin des Brüderlins. Seit 1984 leitete sie das Gasthaus, die ersten Jahre mit ihrem Ehemann. In der Tradition ihrer Großeltern und Eltern steuerte sie das Lokal fast 40 Jahre in ungebrochener Beliebtheit.

Mit ihrem Rückzug vom Brüderlin endet eine Ära. Jutta Marko hat den Gästen einen Raum gegeben, in dem man ganz selbstverständlich Gemeinschaft pflegen konnte, in dem man behaglich essen, trinken, diskutieren, feiern, zusammensitzen konnte. Es wird nicht nur die jahreszeitlich geprägte Speisekarte fehlen, die behagliche Stube voller Erinnerungsstücke, die selbstverständliche Anlaufstelle in der Altstadt – eine Institution in Gernsbach, die Historie und Gegenwart so gastlich verbindet. Dieser Ort bot etwas Unverwechselbares, ein Ort mit eigener Geschichte. Das Brüderlin diente nicht nur dem Konsum, sondern der menschlichen Begegnung. Es herrschte in den Stuben eine stimmige Atmosphäre, der man sich nicht entziehen konnte, eine belebende Mischung von Stammtisch- und Speiselokal.

Den Abschied hatte sich Jutta Marko nicht leicht gemacht, die Entscheidung seit Jahren vor sich hergeschoben. Sie gibt unumwunden zu: „Wenns nicht so viele schöne Stunden gegeben hätte, hätte ich viel früher aufgehört.“ Dabei konnte sie auf den Rückhalt der Familie setzen. Bruder Ernst-Ludwig Singer stand ihr stets tatkräftig zur Seite. Sohn Sigi und Tochter Manuela kamen zu besonderen Anlässen in den letzten Jahren, um ihr unter die Arme zu greifen.

Einen tiefen Einschnitt schuf die Corona Krise. Doch auch in diesen schwierigen Jahren wollte Jutta Marko nicht die Flinte ins Korn werfen. Nun ließen ihr die gesundheitlichen Einschränkungen und die Personalenge ihr nun keine andere Wahl. Mit den Ansprüchen an eine angemessene Weiterführung des erreichten Standards habe sich auch kein Nachfolger gefunden.

Das Brüderlin in einer Zeichnung von 1889.

Als Jutta Marko ihr Lokal zu Ende Oktober 2023 schloss, verloren auch 13 Mitarbeiterinnen aus sechs Nationen ihren Arbeitsplatz. Doch sie fallen nicht ins Leere, durch die langfristige Ankündigung der Beendigung des Betriebs konnten die Kräfte angemessene neue Stellen finden. Schließungen sind derzeit im Gastgewerbe kein Einzelfälle. Deutschlandweit haben sich die Anzahl der Gasthöfe von 2014 von 14.700 auf 9.100 Betriebe im Jahr 2021 verringert. Das sind fast 40 Prozent! Und die Zahl wird weiter zurückgehen. „Neben dem wechselhaften Wetter stellten 64,5 Prozent der Betriebe einen Rückgang der Gästezahlen wegen der zunehmenden Konsumzurückhaltung fest“, bestätigt der Verband des Deutschen Hotel und Gaststätten Verbandes. Dazu kommen noch die Kostenexplosion in den Bereichen Lebensmittel und Energie, Personal und die zunehmende Bürokratie, und die Sargnägel für die Gastronomie sind geschmiedet. Die Verbandsworte: “Wenn noch mehr Restaurants und Cafés verschwinden, würde der Verödung von Innenstädten weiter Vorschub geleistet werden,“ lassen sich in Gernsbach auf einen einfachen Nenner bringen: Wenn das Brüderlin als Gaststätte die Tür schließt, ist eine bedeutende Attraktion der Altstadt verloren.

Die Concession vn 1892 mit Brandweinausschank. Quelle: Famiienarchiv Brüderlin

Großvater Ernst Brüderlin übernahm 1892 das Gasthaus in der Hauptstraße. Er begründete den Betrieb einer Schankwirtschaft mit Branntweinausschank. Nach seinem Tod 1928 führte Ehefrau Julie das Gasthaus weiter. Die Zeiten des Zweiten Weltkriegs und die Nachkriegszeit waren für die Wirtsfrau und deren Tochter Julchen nicht einfach. Nach der Hochzeit von Julchen Brüderlin mit Siegfried Singer, der vom Hotel Löwen in Gernsbach rechts der Murg auf die andere Murgseite wechselte, führten sie die „Restauration Brüderlin“ weiter.

Deren Tochter Jutta trat wie selbstverständlich in die Fußstapfen ihrer Eltern und Großeltern. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Wolfgang Marko übernahm sie 1984 das Ruder in der Wirtschaft. Anfänglich war noch Vater Siegfried im Hintergrund aktiv, Mutter Julchen war bis ins hohe Alter immer im Gastraum präsent.

Historische Postkarte des Brüderlin. Quelle: Stadtarchiv Gernsbach

Jutta Marko setzt die Reihe der „starken Frauen des Brüderlin“ fort. Ihre Lehrzeit als Köchin absolvierte sie im Gasthaus Nachtigall, das damals für Wildgerichte einen hervorragenden Namen hatte. Nach ihrem weiteren beruflichen Weg im Badischen Hof Steigenberger, Baden-Baden, wo sie ihren späteren Ehemann kennenlernte, erreichte sie den Gesellenbrief mit der stolzen Note von 1,0. Doch fand sie trotzdem keine geeignete Stelle. „Damals traute man Frauen noch nicht Spitzenpositionen in der Gastronomie zu“, bekennt sie in der Rückschau.

Jutta Marko hatte immer ein Auge auf die Stadtgeschichte Gernsbachs. Hier ein Tuch aus dem Jahr 1953 mit Gernsbach-Motiven. Foto: Meier

Jutta und ihr Mann Wolfgang haben das Lokal  gewandelt. Das Ambiente behielten sie bei, die behagliche Ausstattung mit alten Stichen und historischen Ansichten von Gernsbach und Gernsbachern an den Wänden wurde weitergepflegt. Sie haben sie die Entwicklung vom Vesperlokal zum Speiselokal geschafft, wo abwechslungsreiche und saisonale Kost selbstverständlich ist. Damals wurde die täglich wechselnde Tageskarte entwickelt, nicht nur wöchentlich, wie Jutta Marko im Gespräch betonte. „Wo wird denn noch die Brühe für Suppen und Soßen selbst gekocht“, gab Ernst-Ludwig Singer bei einem Gespräch am Vormittag mit Blick in die Küche und die dampfenden Kesseln zu bedenken.

Jutta Marko hat nach dem überraschenden Tod ihres Mannes vor 23 Jahren wie selbstverständlich weitergemacht. So wurde die Gaststube zur Kinderstube ihrer Tochter Manuela und Sohn Sigi. Überhaupt fühlte man sich in der Gaststube wie in der guten Stube der Familie. Gasthaustür war auch gleichzeitig Haustür.

Wer hier eintrat, war nicht in Eile, wollte nicht einen schnellen Durst löschen oder im Stehen etwas essen. Gemächlicherer Rhythmus war angesagt.

Im Brüderlin fühlte man sich immer willkommen, gleichgültig, um welche Uhrzeit man kam oder mit wieviel Personen. Wenns ein paar mehr Leute waren, als an einen Tisch passten, wurde kurzfristig umgestellt. Unvergessen werden die vielen Nachmittagskaffees sein, in denen man nach einer Beerdigung zusammenkam. Bei diesen Anlässen wurde ganz deutlich: das Wesentliche ist das Gespräch, das Miteinander, auch in schweren Situationen.

Im Brüderlin waren sie alle zuhause: Die traditionsreichen Stammtische, die sich turnusgemäß trafen, die Puppentheater-Künstler, die Wingolfiten bei ihren Gernsbach-Treffen, die Fasentgruppen, die Feuerwehr-GruppenProbe, die Sport- und Kulturvereine. Hier wurde Partnerschaft zu Baccarat mit Leben gefüllt und über das bisschen Rauch der brutzelnden Merguez während des Altstadtfestes gelächelt.

Jutta Marko vor dem Plakat von 1977. Foto: Meier

Das Plakat „Wer Gernsbacher nicht gern hat, kann Gernsbacher gern ho“ grüßt seit über 40 Jahren im Eingangsbereich. So viele andere Kleinode finden sich an den Wänden, auf Fotos, auf den Simsen, in den Regalen. Doch dies ließe sich ja alles verschmerzen, wenn das „Brüderlin“ nicht mehr wäre als ein Raum mit vielen alten Fotos und guter Küche. Es ist das Lächeln und Willkommen von Jutta Marko, ihre unbeugsame Art, sich von Widrigkeiten nicht gleich den Wind aus den Segeln nehmen zu lassen, den Freuden und Sorgen ihrer Gäste zuzuhören, eine bodenständige Antwort parat zu haben – all das wird fehlen.

Jutta Marko und ihr Bruder können sich noch gar nicht vorstellen, wie die Zeit nach der Schließung aussehen wird. Zu tief war in den letzten Jahren der Tages- und Jahresablauf auf die Gastwirtschaft ausgerichtet. Auf jeden Fall will sie sich ihren Wunsch erfüllen, Veranstaltungen in Gernsbach zu besuchen und mal am kulturellen Leben in Gernsbach teilzunehmen – diesmal nicht hinter der Theke. Mit einem herzlichen Dank an die Familie, an alle Vereine, Gruppen und Familien, die oft über Generationen die Treue zum Brüderlin gehalten haben, blättert sie gedankenversunken durch das Erinnerungsbuch. 

Bei den vielen Abschieds-Essen, die in den letzten Wochen vor der Schließung stattfanden, stand ein Thema im Mittelpunkt. „Wo treffen wir uns nach dem 30. Oktober?“ Und die Gäste, die an den runden Tischen mit ihrem prägnanten Holzplatten zusammenkamen, stellten plötzlich fest, dass das Brüderlin mehr war als ein Ort der guten Küche und zentralen Lage. Man kam hier zusammen und knüpfte oft längst verlorene Fäden. Nachbarn, die sich schon lange nicht mehr getroffen hatten, ehemalige Schulkameraden, die sich fast nicht mehr erkannten, Vereinskollegen, die man sonst nur im Vorbeigehen kurz grüßt, waren hier für ein gemütliches Gespräch offen. Nicht der Tresen wie in den modernen Kneipen ist der Mittelpunkt, sondern der Tisch aus massivem Holz. Nicht das Kommen und Gehen machte die Seele des Lokals aus, sondern das Sitzen und Zusammensein.

Jutta Marko blättert in dem Abschiedsalbum. Foto: Meier

Eine besondere Geste zum Abschied wurde von den Waldschäddern, Gernsbach, angestoßen. Sie haben eine Art Gästebuch aufgelegt, in denen man ein Grußwort schreiben durfte. Herausgekommen ist eine Sammlung der Wertschätzung der Gäste und Freunde, die sich über Jahre aufgestaut hat und oft nicht zum Ausdruck gekommen ist. Für Jutta Marko und ihre Familie birgt es einen Schatz an Erinnerungen und Dank für die Gastfreundschaft über die vielen Jahre im Haus Hauptstraße 3. Darin wird sicherlich noch lange geblättert und hält die Erinnerung an viele Gäste und Begegnungen wach. „Dies Gasthaus bleibt unvergessen / in den Annalen dieser Stadt / ist ihm ein fester Platz bemessen“, lautet ein Gedichtzeile in dem Buch. 

Ein persönlicher Abschiedsgruß von meiner Seite: In meinem Gernsbach-Mosaik fehlt zukünftig ein Stein. Ich freue mich für Jutta, dass sie eigenbestimmt ihren weiteren Lebensabschnitt gestaltet und sehe den zukünftigen Begegnungen entgegen.

Regina Meier

Der letzte Abend im Brüderlin: 30. Oktober 2023. Foto: Meier

 

Der Artikel erscheint im Gernsbacher Bote 4/2023, Erscheinungstermin: 28. November 2023

Draim – Musik im Murgtal

Am Samstag, 25. November 2023 ist es mal wieder soweit. “Draim” ist in Forbach zu hören. Da gehts nicht nur um Träume, sondern um ein Bühnenjubiläum.

Genau vor 25 Jahren entstanden die ersten hörenswerten Geschichten, die Christoph Merkel in seinen Liedern in badischer Mundart besingt. Er komponierte kleine Hörgemälde, die in intensiver Weise verschiedenste Stimmungen lebendig werden lassen. So leise und melancholisch das eine Stück, so lebhaft und kraftvoll klingt das andere.

Besetzung:
Christoph Merkel (Gitarre, Gesang)
Markus Egger (Bass, Gesang)
Tobias Buck (Drums, Percussion)
Stefan Kneissler (Keys)
und Gäste.
Termin: 25.11.23, 18:30 Uhr Saalöffnung, 19:30 Uhr Konzertbeginn
Ort: Sankt Josefshaus, 76596 Forbach
Eintritt: 15 EUR
Kartenbestellung vorab möglich: http://draim.de/kartenbestellung/
Bewirtung: 
Vor und nach der Veranstaltung sowie in der Pause werden Getränke angeboten. Während der Veranstaltung ist keine Getränkeausschank.

Mit dem Schiff nach Grönland

Danke für die tolle Resonanz auf den Vortrag „Mit dem Schiff nach Grönland“. Wir haben uns sehr gefreut, dass wir unsere Erfahrungen über das Entdecken dieses außergewöhnlichen Landes weitergeben konnten und dass uns so viele in dem angenehmen Ambiente der St. Erhard-Kapelle Obertsrot virtuell auf dieser Reise begleitet haben.
Interessant war, dabei einige Erfahrungen von Reisenden zu hören, die bereits in anderen nördlichen Regionen dieser Welt unterwegs waren. Ein herzliches Dankeschön an das Team vom Kirchl, das die Veranstaltung mit viel Engagement möglich gemacht und für das Wohl der Besucherinnen und Besucher gesorgt hat.
Wir kommen gerne wieder!
 

Am Dienstag, 5. Dezember 2023, 19.30 Uhr wird Werner im Kirchl, Obertsrot, über unsere Reise nach Grönland berichten. “Mit dem Schiff nach Grönland” lautet der Titel.

Grönland steht im Mittelpunkt des Abends, sowie die Reise mit dem Schiff dorthin. Grönland gehört sicher zu den ausgefallenen Reisezielen. Dennoch – nach unseren Erlebnissen auf unserer Island-Reise wurde die Idee geboren, noch weiter nach Norden zu gehen und die Faszination von Eis und Meer zu erleben.

Bereits die Anreise mit dem Schiff nach Grönland ist ein Erlebnis. Sechs Tage benötigt man mit dem Schiff von Deutschland bis zu der weltgrößten Insel. Dabei gehören Stopps auf dem Hin- und Rückweg auf den entlegenen Orkney Inseln, den Shetland Inseln und Island dazu. Die lange Zeit des Annäherns und des Verabschiedens von Grönland erlaubt es dem Reisenden auch, sich langsam an das Land mit der Mitternachtssonne zu gewöhnen. So kann man die lang andauernde Helligkeit eines Tages, in dem die Grenze zwischen Tag und Nacht verwischt wird, bewusst genießen.

Faszination Eisberge

Grönland wird bestimmt durch seine außerordentliche Lage in der Arktis. Sie gilt als größte Insel der Welt, von der mehr als dreiviertel des Landes  unter einer über 3 Kilometer starken Eisschicht liegen. Die riesigen Gletscher, die man bei der Fahrt entlang der Küste erleben kann,  bestechen durch ihre Dimensionen, doch auch die kleinen Eisschollen faszinieren in ihrer Vielfalt. Majestätische Gebirgszüge und die Gesteins-Vielfalt begeistern mit ihren Formen und Farben.

Das Durchfahren des Prins-Christian-Sunds und der Disko-Bucht gehören sicherlich zu den herausragenden Naturerlebnissen auf der Reise. Bunte, kleine Häuser an der Küste begrüßen die Ankommenden von Weitem, wenn man sich vom Meer aus den Städten nähert. In dem Erkunden der einzelnen Städten an der Westküste begegnet man den Ursprüngen aus der Wikinger-Zeit sowie den Einflüssen der frühen europäischen Arktis-Forschern.

Auf der Wanderung zum Eisfjord bei Ilulissat.

Auf den jeweiligen Land- und Bootsausflügen in Sisimiut, Ilulissat, Qeqertarsuaq und Nuuk erleben wir intensiv die Natur der arktischen Region und versuchen die unfassbaren Anpassung der Menschen an diese extremen Lebensbedingungen zu verstehen. Auf Wanderungen können wir die Fjordlandschaft und die grünen, von Moosen, Beeren  und Blumen geprägten Landschaften erleben.

Die Modernität der Hauptstadt Nuuk zeigt den tiefgreifenden Wandel in der heutigen Gesellschaft Grönlands. , das ein autonomes Gebiet innerhalb des Königreiches Dänemark bildet. Die politische Situation in dem Land, das ein autonomes Gebiet innerhalb des Königreiches Dänemark bildet, ist durch die neueren, umfangreichen Funde von Naturschätzen nicht einfacher geworden. Eine Reise nach Grönland umfasst auch immer das Beschäftigen mit den Auswirkungen des Klimawandels und der Veränderungen der kulturellen Identität der einheimischen Iniut. Deren traditionelles Leben wird zwischen althergebrachten Strukturen und Errungenschaften der Jetzt-Zeit auf eine harte Bewährungsprobe gestellt. Auf der Reise begegnet man auch modernen und traditionellen Kunsthandwerkern.

In dem etwa 1,5 stündigen Vortrag werden auch die Erlebnisse an Bord des Schiffes, das sich mit 400 Passagieren sich auf ihre letzte Reise machte, beleuchtet. Der Vortrag schildert die persönlichen Erlebnisse und Begegnungen einer Grönland-Reise vom Sommer 2023, denen eine intensive Beschäftigung mit der Literatur über das Land folgte.

Ein besondere Entdeckung dabei ist das Buch von Markus Lanz „Grönland – Meine Reisen ans Ende der Welt“, über das auch eine ZDF-Reportage „Sehnsucht Grönland“ entstand.

Vortrag: Dienstag, 5. Dezember 2023, 19.30 Uhr
Eintritt: 7,- Euro

im Kirchl, Obertsrot

Auswanderer 1923 – mit Gernsbacher Wurzeln

Fritz Schorn (rechts) wanderte 1923 nach Amerika aus. Foto: Familienarchiv Schorn

Vor 100 Jahren wagten so manche Deutsche den Sprung über den Atlantik, um in den USA ein neues Leben zu beginnen. Die wirtschaftlichen Nöte und die politischen Instabilitäten lösten so manchen Auswanderungswunsch aus. Einer der dies umsetzte war Fritz Schorn aus Gernsbach, der als Neunzehnjähriger 1923 in das verheißungsvolle Land Amerika ging. Dort begann er ein neues Leben und gründete eine Familie im fernen Westen der USA, in Kalifornien. Dabei behielt er immer den Kontakt zu seiner Familie in Deutschland durch regelmäßige Besuche nach dem Zweiten Weltkrieg. Seine Erinnerungen an seine Kinder und Enkelkinder in Kalifornien weiter. Seine lebendigen Erzählungen hielt die Erinnerung an seine Kindheit und Jugend in seiner Familie lebendig. Und an ein Gernsbach wie es in den fünfziger und sechziger Jahren schon nicht mehr gab.

Fritz Schorn hielt deutsche Traditionen im fernen Kalifornien lebendig. Foto: Familienarchiv Schorn

Neben seinem Haus in San Francisco baute er ein Waldhaus in den Redwood Wäldern nahe der kalifornischen Metropole, da ihn die Landschaft dort so sehr an den Schwarzwald erinnerte. Dort bewahrte er so manches historisches Mitbringsel auf und traf sich mit anderen deutschen Auswanderern zum Binokel-Spielen und Oktoberfesten. Auch seinen Enkeln brachte er von seinen Deutschland-Reisen Dirndl und Lederhosen mit, selbst als diese schon längst nicht mehr zu den zeitgemäßen Kleidung in Deutschland gehörte. Durch seine Erzählungen schuf er die Grundlage in seinen Kindern und Enkelkindern die Verbindung zu der Familie in Deutschland nie abzubrechen – zur Freude aller jenseits und diesseits des großen Teichs.

In der BNN/BT vom 21. September 2023 wird die Auswanderung von Fritz Schorn wie auch seine Verbundenheit zu seinen Gernsbacher Wurzeln aufgegriffen. 

Schicksalsjahr 1923 – Teil 2

Im vergangenen Gernsbacher Bote 2/2023 erschien Teil 1 des Artikels über das „Schicksalsjahr 1923“. Hiermit wird der Rückblick auf das ereignisreiche Jahr vor 100 Jahren weiter fortgesetzt.

Auch für einen Gernsbacher war 1923 ein Schicksalsjahr. Der neunzehnjährige Fritz Schorn hatte seine Heimatstadt Gernsbach verlassen und war nach Amerika ausgewandert.

1922 war die Siedlung „Kolonie“ zwischen Schwarzwald- und heutiger Friedrich-Abel-Straße für die Werksangehörigen von Schoeller & Hoesch fertiggestellt worden. Quelle: Festschrift 1956 Jahre Schoeller & Hoesch

Ein wesentlicher Grund waren die schlechten Verdienstmöglichkeiten in dem von den Nachkriegswirren gebeutelte Deutschland, das politische und wirtschaftliche Existenzkämpfe erlebte. Die Inflation beherrschte das Wirtschaftsleben. Die Verdienste der Arbeiter wie auch der Beamten hielt mit den Teuerungsraten der Preise[1] nicht Schritt. So wandten sich die Lehrer der hiesigen Realschule in einem Schreiben vom Dezember 1923 an die vorgesetzte Behörde und reklamierten. Die Teuerungsraten in Gernsbach wären eine der höchsten in Baden. „Die Teuerung ist hier deshalb so groß, weil Gernsbach Industrie- und Kurort ist und in einem Verbraucherbezirk und nicht in einem Erzeugerbezirk liegt.“ Das Protestschreiben weist ebenfalls darauf hin, dass der größte Arbeitgeber am Ort, Schoeller & Hoesch, durch die firmeneigenen Werkswohnungen und der Versorgung ihrer Arbeiter mit Brenn- und Lebensmitteln viel für seine Mitarbeiter getan hat. 1922 war die Siedlung „Kolonie“ zwischen Schwarzwald- und heutiger Friedrich-Abel-Straße für die Werksangehörigen fertiggestellt worden.[2]

Viele Gernsbacher kamen jedoch nicht in den Genuss dieser Vergünstigungen. Viele verloren ihre gesamten Ersparnisse, die innerhalb kürzester Zeit nichts mehr wert waren. Selbst die Kirchengeläut in Gernsbach musste unter der Inflation leiden. Die katholische Kirchengemeinde hatte 1922 vier Glocken bestellt, die Glockengießerei stellte vor Anlieferung allerdings Nachforderungen. Stadtpfarrer Steinbach klagte: „dass die Glocken versandfertig seien, aber nicht abgeschickt würden, wenn wir nicht eine Nachforderung von circa drei Millionen Mark anerkennen würden.“  Letztlich stimmte die Gemeinde zu: „Sofort zugreifen, sonst bezahlen Sie in wenigen Tagen das Doppelte und Dreifache!“ Schließlich wurden am 23. Januar 1923 die neuen Glocken geliefert.

Durch die Inflation wurden ganze Bevölkerungsklassen enteignet, ein uraltes Vertrauen zerstört und ersetzt durch Furcht und Zynismus: „auf was war noch Verlass, auf wen konnte man bauen, wenn dergleichen möglich war“, summierte Golo Mann über diese Zeit in Deutschland.[3]

August Menges, Bürgermeister von 1919 bis 1933, erreichte in den 1920er Jahren, dass auch in Gernsbach Quäker-Speisungen ausgegeben wurden. Foto: Stadtarchiv Gernsbach

Besonders die Familien mit Kindern litten unter den Verhältnissen. Bereits 1920 war eine Kinderhilfe eingerichtet worden, eine staatliche Geldsammlung, deren Erlös Kindern aus Gernsbach, aber auch in ganz Baden zugute kam.[4] Außerdem hatte Bürgermeister Menges eine Hilfe der Quäker aus den USA erreicht. Die Quäkerspeisungen begannen bereits 1921 und unterstützten Gemeinden, „die in Bezug auf die Lebensmittelversorgung unter mißlichen Verhältnissen leiden.“ Für die Bewilligung dieser Hilfe musste zuerst eine ärztliche Untersuchung aller Kinder stattfinden, mit Größe und Gewicht.[5] Diese Listen belegen die schlechte Ernährungslage, unter der vor allem die Kinder litten. Dank der Quäker-Hilfe wurden wöchentlich Lebensmittel an die Kinder in den Schulen ausgegeben, die Unterlagen dazu finden sich noch heute im Stadtarchiv Gernsbach. 

Doch nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch befand sich Deutschland in einer Existenzkrise. Die Ruhrbesetzung und die politische Instabilität verunsicherte die Bevölkerung in ihrer Erwartung der Zukunft. So war in dem jungen Gernsbacher Fritz Schorn – wie bei vielen anderen – die Entscheidung gereift, dieses krisengeschüttelte Deutschland zu verlassen. Um nach Amerika zu gelangen, musste man einen „Paten“ im Land nachweisen.

Handgeschriebener Brief
Der erste Brief des Auswanderers Fritz Schorn aus dem Jahr 1923. Fotos (wenn nicht anders angegeben): Familienarchiv Schorn

Für Fritz Schorn bürgte sein Cousin Louis, der ihm die 110 Dollar für die Schiffs-Passage vorstreckte und im März 1923 noch 20 Dollar sandte: 10 Dollar für die Einwanderung, 2 Dollar für die Zugfahrt von Gernsbach nach Hamburg. „So werst du 8 Dollar uberich haben. Nimm gut acht von das Geld, du kannst es notwendig brauchen vielleicht“, schrieb Louis in seinem amerikanisch eingefärbten Deutsch.[6] Und einen weiteren Rat, den ihm der Cousin in den Inflationszeiten gab:  „Wechsel keinen amerikanischen Dollar, wenn es nicht notwendig ist, weil deutsches Geld ist nix wert in diesem Land.“

Zwei Männer an einer Theke
Fritz Schorn trat bereits 1927 in die US Coastal Guard ein.

Doch in Amerika erwartete ihn kein einfacheres Leben. Der hehre Wunsch, den Problemen in Deutschland zu entfliehen, folgte eine nüchterne Erkenntnis. In dem ersten Brief von Fritz Schorn, er noch in deutscher Schrift verfasste, hört man die Ernüchterung raus: „ins gelobte Land Amerika, wo Milch und Honig fließt, so man Geld hat“. „Hier muß man auch arbeiten, um Geld zu verdienen.“ Durch die Farmarbeit, die ihm sein Cousin anbot, verdiente er nicht genügend, um das geliehene Geld zurückzubezahlen. So wechselte er zu einer Fabrikarbeit, dann trat er in die US Coast Guard ein, die ihm die Einbürgerung in die USA erleichterte. Dies brachte ihn schließlich nach Kalifornien, wo er schließlich in San Francisco Fuß fasste. Dort traf er auf eine junge, deutsche Auswanderin aus Norddeutschland und gründete eine Familie. Sie kauften ein Haus in der quirligen kalifornischen Metropole. Bald folgte ein Wochenendhaus in den nahen Redwood-Wäldern, die bei ihm Erinnerungen an den Schwarzwald auslösten. Daraus wurde später sein fester Wohnsitz, noch heute wohnen seine Nachfahren dort.

Gruppenfoto von 1950
Bei dem ersten Klassentreffen des Jahrgangs 1904 nach dem Zweiten Weltkrieg, zu dem Fritz Schorn mit seiner Frau 1950 kam, wurde er herzlich willkommen geheißen. Christine Schorn mit Blumenstrauß sitzt rechts von ihrem Mann. Auf der anderen Seite Metzgermeister Anselm.

Den Kontakt zu Gernsbach hielt er sein Leben lang aufrecht. Er kam zeitlebens zu Klassentreffen des Jahrgangs 1904 und zeigte seinen beiden Töchtern in mehreren Reisen sein Elternhaus, in dem seine Schwester bis in die 1990er Jahre wohnte. Das Haus in der Waldbachstraße, das direkt an der Stadtmauer liegt, war für ihn immer Anlaufstelle bei den Besuchen in seiner Heimatstadt. In den siebziger Jahren brachte er seine Enkelinnen nach Gernsbach. Diese halten bis heute die Verbindung nach Gernsbach und den zwischenzeitlich freundschaftlich verbundenen ehemaligen Nachbarn.

Zwei Frauen sitzen vor der Kulisse von Gernsbach.
Die Enkelinnen von Fritz Schorn machten einen Besuch in der Heimatstadt des vor 100 Jahren ausgewandertn Großvaters. Foto: Meier

Bei einem kürzlichen Besuch der Enkellinen und der Ur-Enkelin in Gernsbach – fast genau 100 Jahre, nachdem ihr Urgroßvater seine Heimat verlassen hatte – ging sie den Spuren der Familie in den 1920er Jahren nach. Sie nahm nicht nur die Familien-Geschichte in Blick, es wurden auch Parallelen zu heute gesucht: 2023 werden die Angst vor der Inflation und der Kampf um Rohstoffe öffentlich diskutiert wie es 1923 an der Tagesordnung war. Allerdings – was uns als Bedrohung durch Krieg und Energiefragen derzeit beschäftigt, ist mit den Zuständen von 1923 nicht vergleichbar. Doch lohnt sich immer wieder der Blick zurück in die Vergangenheit.

Regina Meier

Der Artikel erschien im Gernsbacher Bote 3/2023, Seite 6-7

[1] Regina Meier, in: Gernsbacher Bote 2/2023 Seite 6f.
[2] Wolfgang Froese, in: Gernsbacher Bote 3/2014, S. 7f.
[3] Golo Mann, Deutsche Geschichte des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts, Frankfurt 1958, Seite 679
[4] Martin Walter, Prägende Jahre zwischen den Kriegen 1914-1945, in: „800 Jahre Gernsbach – die Geschichte der Stadt“, Gernsbach 2019, Seite 207
[5] Stadtarchiv Gernsbach,  Akte  4887
[6] Familienarchiv Schorn, privat, San Francisco

Begeisterndes DENKmal Altstadt

Schauspieler-Truppe von Cornelia Renger-Zorn führte die Zuschauer l in die Revolutions-Zeit. Foto: Meier

Flanieren von Denkmal zu Denkmal in der Gernsbacher Altstadt – mit Musik und Führungen! Das Konzept der Aktion DENKmal Altstadt ging am Samstag, 1. Juli, voll auf! Dank der guten Organísation durch das Kulturamt der Stadt Gernsbach mit Melanie Mußler und ihrem Team liefen die Vorbereitungen reibungslos ab, Akteure und Eigentümer der einzelnen Orte waren in die Planung eingebunden. Der Eröffnung durch Bürgermeister Julian Christ vor dem Kornhaus folgte gleich der erste musikalische Beitrag durch die Big Band des Albert-Schweitzer-Gymnasiums. Und dann gings Schlag auf Schlag. Im Bürgersaal des Alten Rathauses spielte das Violinensemble der Musikschule Gernsbach unter Leitung von Ulrike Merz auf.

Musica Antiqua trat im Keller des Alten Rathauses auf. Foto: Meier

Musica Antiqua hatte ihren Auftritt im Keller des Alten Rathauses. Im Kornhaus wurde durch das Kornhaus-Team bewirtet, und man konnte die Ausstellung zu Friedrich Weinbrenner auf eigenen Faust erkunden. In drei Führungen Mal gab Dr. Ullrich Schumann, Präsident der Weinbrenner-Gesellschaft, Erläuterungen zum Leben und Werk von Friedrich Weinbrenner. Auf den ausgestellten Tafeln wurde  über die Gernsbacher Stadtplanung des genialen Bauherrn berichtet. Vor dem Kornhaus trat zu abendlicher Stunde der Schulchor des Albert-Schweitzer-Gymnasiums unter Leitung von Eckhard Kleinbub auf. Zu Beginn war das Lampenfieber beim Chor aufgrund der zahlreichen Zuschauerinnen und Zuschauer groß, doch bald legte sich dies und die Sängerinnen und Sänger überzeugten durch ihren Auftritt.

Begehrt war die Teilnahme an der Führung zur 1848er Revolution. Cornelia Renger-Zorn hatte eigens für diesen Tag eine Szenenspiel zur Revolution von 1848 geschrieben. Wie zu erwarten, hatte sie auch eine Rolle für einen Freiwilligen aus dem Publikum vorgesehen – der Zufall wollte es, dass auch Bürgermeister Julian Christ in diese Rolle schlüpfen durfte.

Wolfgang Froese, Stadtarchivar, begrüßte die Besucher im historischen Gewand des 19. Jahrhunderts vor dem ehemaligen Gasthaus “Goldener Bock”, Hauptstraße 20, und gab eine erste Hinführung zu den Ereignissen 1848 in Gernsbach, bevor in den Keller des Gebäudes geführt wurde. Dort erwartete die Besucher gemütliches Ambiente, und die Schauspieler-Truppe von Cornelia Renger-Zorn tat ihr übriges, dass man sich schnell in die Revolutions-Zeit zurückversetzt fühlte. Sie schrieb eine Konversation zwischen Casimir Griesbach (Demokrat, Republikaner), der von Günther Schermer gespielt wurde, und Wilhelm Grötz (konservativ-konstitutionell), dargeboten von Wolfgang Froese. Vielleicht hat auch der Ausschank eines Getränkes durch die Truppe das Übrige dazu beigetragen, dass man sich gar nicht mehr von den Bänken im Keller erheben wollte.

Bernd Säubert führte durch den Keller neben dem Kornhaus und konnte viele Details über die “Unterwelt” von Gernsbach erzählen. Foto: Meier

Das Highlight waren die beiden privaten Keller, die eigens zu diesem Anlass geöffnet wurden. Das eine war der Keller von Hauptstraße 28/30 und der andere der Wolkensteinsche Keller in der Turmgasse. Bernd Säubert führte durch den Keller neben dem Kornhaus und konnte viele Details über die “Unterwelt” von Gernsbach erzählen. Dr. Alexander Hoff ermöglichte den Zugang der Wolkensteinschen Keller und gab einen Einblick in die Sanierung mittelalterlichen Gewölbes. Dort wurden auch Erinnerungen an die 1970er Jahre wach, als die Keller während der ersten Altstadtfeste zu Bewirtung geöffnet waren – bei dem aktuellen Bauzustand unvorstellbar.

In den Zehntscheuern führten Stephan de Laporte, Regina Meier und Irene Schneid-Horn durch zwei der historischen Stockwerke, Mitglieder des Forums Zehntscheuern standen für Fragen die ganze Zeit zur Verfügung. Ein Schmankerl am Rande bildete der Besuch eines Brautpaares. Zufällig kam ein Brautpaar, das kurz zuvor im Bürgersaal des Alten Rathauses getraut worden war, bei den Zehntscheuern vorbei und war von dem Ambiente des Gebäudes so fasziniert, dass sie es spontan für ihr Hochzeitsfotos-Shooting wählten. Von dieser Stelle nochmals herzlichen Glückwunsch!

Kanonsingen “Mach mit” vor dem KUNSTRaum, Hauptstraße 23. Foto: Annegret Kalvelage

Ein Schmankerl bot Sabine Giersiepen in der Hauptstraße 23. Vor dem KUNSTRaum, wo Stein- und Holzskulpturen von Annegret Kalvelage ausgestellt werden, hatte sie eingeladen zum Kanonsingen “Mach mit”. Mit Unterstützung von Freunden versammelte sie an drei Terminen sangesfreudige Menschen, die zufällig oder gezielt vorbeikamen und den mehrstimmigen Chor bereicherten. Eine ansteckende Mitmach-Aktion.

Und zwischendrin konnte man einkehren in die Lokale der Stadt. Bestes Sommerwetter tat sein übrigens hinzu, dass die Besucher bis in die Dunkelheit hinein den Stadtbuckel “nuff und runner” unterwegs waren.

Als es langsam dunkel wurden, konnten auch die Aktiven und die Mitarbeiterinnen der Tourist-Info aufatmen – kein störender Regen sowie rundum zufriedene Besucherinnen und Besucher. Bis die letzten Keller geschlossen und alle Tore der Zehntscheuern verriegelt waren, dauerte es noch etwas. Am nächsten Tag war der Bauhof nochmal aktiv, baute Hinweisschilder und Absperrungen wegen der Abgrenzungen der mobilen, zusätzlichen Toiletten ab und das tägliche Altstadtleben nahm seinen Lauf.

Im Rückblick ein tolles Zusammenspiel von Verwaltung, Kulturschaffenden, Altstadt-Bewohner und Altstadt-Aktiven. Danke für dieses harmonische Miteinander. Die Veranstaltung ruft nach einer Wiederholung. Nächstes Jahr?

Regina Meier

Der Artikel erschien im Gernsbacher Bote 3/2023, Seite 13

Die Glocken der Liebfrauenkirche

Weithin klingen die Glocken Gernsbachs über die Stadt. In diesem Jahr kamen zu dem abgestimmten Geläut der Kernstadt noch eine weitere Besonderheit hinzu: Die Glocken der Liebfrauenkirche erklingen nun zusätzlich am Morgen und am Abend zum Gebetsläuten.

Pfarrer Markus Moser hat dies wieder eingeführt. Die Tradition reicht weit zurück in die Geschichte und hat auch noch heute in der lärmerfüllten Zeit ihre Berechtigung. Das Läuten lässt die Menschen bewusst wahrnehmen, dass es noch etwas anderes als ein gehetztes und vergängliches Erdenleben gibt. Die evangelische Jakobskirche hat über die Jahre hinweg das Mittagsläuten um 12 Uhr und das Abendläuten um 19.30 Uhr bewahrt. Nun ergänzt die Liebfrauenkirche mit dem Läuten der Glocke Heiliger Erzengel Michael um 7 Uhr das vielstimmige Geläut (außer am Wochenende). Auch das 12-Uhr-Läuten der Liebfrauenkirche wird von der Michaelsglocke bestritten. Nur beim Abendläuten kommt nach der Michaelsglocke zum Abschluss noch die Glocke Heiliger Schutzengel zu Gehör, die kleinste Glocke in dem fünfstimmigen Geläut.

Fünf Glocken in der Liebfrauenkirche

Die größte Glocke der Liebfrauenkirche ist der Namenspatronin der Kirche geweiht und zeigt in dem umlaufenden Fries Abbildungen zu den Sieben Schmerzen Marias. Hier die Flucht aus Ägypten. Foto: Meier

Insgesamt umfasst die Glockenstube der Liebfrauenkirche fünf Glocken, die jeweils einen Namen, eine eigene Inschrift und Verzierung haben[1]:
1 Maria Mater Dolorosa. Der Durchmesser der Glocke beträgt 1300 mm, Gewicht 1500 kg, Ton es. In einem umlaufenden Fries sind Bilder eingegossen, die die sieben Schmerzen Marias symbolisieren.
2 Heiliger Erzengel Michael, Durchmesser 1160 mm, Gewicht 1100 kg, Ton f. In einem umlaufenden Fries sind Bilder eingegossen, die die vier Tugenden darstellen. Deutlich zu erkennen sind eine Waage (Sinnbild für die Gerechtigkeit), eine Säule (die Stärke), Gefäße (Mäßigung: Mischung von Wasser und Wein) und ein Spiegel (die Klugheit: der kluge Mensch hält sich einen Spiegel vor, und denkt über seine Taten nach).
3 Seliger Bernhard von Baden, Durchmesser 980 mm, Gewicht 640 kg, Ton as.
4 Joseph, Durchmesser 840 mm, Gewicht 380 kg, Ton b. Sie besitzt vorne eine Inschrift. „Brüder, den guten Gott liebet, christliche Nächstenliebe übet.“
5 Heiliger Schutzengel, Durchmesser 750 mm, Gewicht 280 kg, Ton c.

Das Läuten der Glocke wird heute über eine elektrische Steuerung geregelt, die Glocken werden von Motoren angetrieben. Ältere Gernsbacher erinnern sich noch, dass bis in die 1960er Jahren die Glocken durch Seile vom Turmraum aus geläutet wurde. Der Messner Haitz musste damals noch die Uhr von Hand aufziehen und dazu mehrere Stockwerke hoch in den Kirchturm steigen, erinnern sich ehemalige Messdiener, da sie ihn bei seinem Gang begleiten durften. Im Stadtarchiv findet sich dazu ein Beleg: Immerhin erhielten die beiden Kirchendiener für das Aufziehen der Kirchenuhren und das Zeitläuten eine Entschädigung von täglich eine halbe Stunde Arbeitszeit aus der Stadtkasse bewilligt. Dies ist die Besonderheit: Während das Läuten zum Gottesdienst und Gebet kirchliche Angelegenheit ist, obliegt der Stadt die Zeitansage.[2] Auch wenn es heute nicht mehr so bedeutsam ist, dass vom Kirchturm die Zeit strukturiert wird, so ist es doch ein Symbol für die Einbindung des Menschen in die soziale, kulturelle und religiöse Gemeinschaft.

Geschichte der Glocken

Die älteste Glocke im Geläut der Liebfrauenkirche ist die Josephs-Glocke, die sich seit 1923 im Kirchturm befindet. Foto: Meier

Die derzeit älteste Glocke im Turm der Liebfrauenkirche wurde vor 100 Jahren installiert. Die Geschichte der Glocken in Gernsbach ist wesentlich älter.  Schon 1626 sind drei Glocken nachgewiesen. Die „Burger-Glocke“ wird 1774 erwähnt.[3] Aufschlussreich sind die Kostenverteilungen im 17. und 18. Jahrhundert zwischen Stadtverwaltung sowie evangelischer und katholischer Gemeinde bei den Reparaturen an den Glocken. Diese wird auch bei der Erweiterung der Liebfrauenkirche im 19. Jahrhundert dokumentiert.[4]

Ein Archivdokument von 1782 beschreibt die Kostenverteilung, als große gesprungene Glocke der Liebfrauenkirche wiederhergestellt wurde. Die Kosten dafür wurden „nach uralter Observanz“ zur Hälfte von der Stadtverwaltung, zum anderen von der Katholischen Kirchengemeinde getragen.[5]

Einschneidende Veränderung in den Glockenbestand der Stadt gab es während des Ersten und Zweiten Weltkrieges. Etwa 65.000 Glocken wurden im Ersten Weltkrieg in Deutschland zu Kanonen umgegossen. Viele Kirchengemeinden betrachteten das „Glockenopfer” als einen patriotischen Akt. Glocken waren wegen ihrer Bronze kriegswichtiges Material und wurden während zuerst freiwillig abgegeben, dann zwangsweise eingezogen.

3 Glocken auf einer Ladefläche
Eine seltene Aufnahme hat die Abgabe der Glocken 1917 auf der Waage bei der ehemaligen Kelter in der Gottlieb-Klumpp-Straße dokumentiert. Foto: Familienarchiv Bohnert

Im September 1917 wurden Glocken der evangelischen und katholischen Kirche abgegeben und nach Rastatt überführt. Von der Liebfrauenkirche wurden die Glocken 1,2 und 4 mit insgesamt 1.500 kg und von der St. Jakobskirche die Glocken 2 und 3 mit insgesamt 1.500 kg eingezogen. Bereits im Dezember 1919 werden sie als „bereits zerschlagen“ vermerkt.[6]

Bei der Wiederbeschaffung, die von der Stadt aus „moralischen Gründen“ zur Hälfte finanziert wurde, wurde die Vereinbarung getroffen, dass sich die Kirchen zum „üblichen Zeitläuten verpflichten“. Am 8. Juli 1921 stimmte der Bürgerausschuss unter dem Vorsitz von Bürgermeister Menges zu, dass die Neuanschaffung der großen Kirchenglocke für die evangelische und katholische Kirche von der Stadtkasse übernommen wird.

Die protestantische Gemeinde schloss einen Vertrag mit der Firma Bachert in Karlsruhe ab, während sich die katholische für die Firma Grüninger in Villingen entschied. Beauftragt wurden von der katholischen Gemeinde vier Glocken mit Liefertermin Februar 1922. Doch die Hyperinflation der 1920er Jahre warf die Pläne über den Haufen. Während von der evangelischen Kirche bereits Weihnachten 1921 das neue Geläut zu hören war, wurden der katholischen Gemeinde im Mai 1922 erstmal Lohnnachforderungen in Rechnung gestellt. Schließlich sah sich der damalige Stadtpfarrer Karl Steinbach gezwungen, die Gemeindemitglieder zu beruhigen, die sich nach dem neuen Geläute erkundigten. „Meine Pfarrkinder wurden von Woche zu Woche ungeduldiger, aufgeregter,“ schrieb der Pfarrer. Schließlich erhielt er die Nachricht vom Glockengießer, „dass die Glocken versandfertig seien, aber nicht abgeschickt würden, wenn wir nicht eine Nachforderung von circa drei Millionen Mark anerkennen würden.“ Hintergrund war die rasant ansteigende Inflation, die eine unvergleichbare Geldentwertung zur Folge hatte. Die weiteren Verhandlungen ermöglichten es, dass  am 21. Januar 1923 es endlich soweit war. Die neuen Glocken wurden in der Liebfrauenkirche installiert.

Erneutes Glockensterben im Zweiten Weltkrieg

Der nächste Einschnitt im Glockenbestand kam mit dem Zweiten Weltkrieg. Nach einer Anordnung vom 15. März 1940 durften die Kirchenglocken nur bei Tage geläutet werden. „Von 18 bis 8 Uhr haben sämtliche Kirchenglocken zu schweigen.“ Doch diese Anordnung war bald nicht mehr von großer Bedeutung. Denn bereits im April 1940 wurden die Kirchenglocken der Stadt wieder eingezogen. Der Rohstoff wurde als kriegswichtig eingestuft. Im April 1940 dokumentiert der Meldebogen für Bronzeglocken der Kirche für die Liebfrauenkirche, dass von den vier Glocken drei abgeliefert wurden. Danach wurden die Glocken mit der Meldenummer 1, 2 und 4 mit insgesamt  abtransportiert. Nur die Josephsglocke 3 durfte bleiben. Somit ist sie heute die älteste Glocke der Liebfrauenkirche.

Foto: Familienarchiv Bohnert

Das Abliefern der Glocke wurde damals als Eingriff  in die Identität der Gemeinde empfunden. Daher ist es verständlich, dass nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Anschaffung von neuen Glocken sehr wichtig für die Pfarrgemeinde war. Bereits 1950 wurde vom Geistlichen Rat Ernst Bernauer die Anschaffung von vier Glocken beantragt. „Die kath. Kirchengemeinde will zu der vorhandenen b’Glocke noch vier weitere Glocken mit den Tönen es-f-as-c anschaffen.“ Diesem Antrag wurde umgehend stattgegeben. Mit vielen Aktionen wurde in Gernsbach damals die Anschaffung unterstützt. So fand im Oktober 1949 ein „Seifen-Kistel-Rennen“ mit 80 kleinen Rennkünstlern zugunsten der katholischen und evangelischen Kirchenglocken statt. Als Höhepunkt des Oktoberfestes wurden „8 Große Ausscheidungs-Boxkämpfe unter der bewährten Kampfleitung von Ex-Weltmeister Max Schmeling“ veranstaltet.

Aktuelle Anpassungen

5 Glocken in der Glockenstube
Das Geläut der Liebfrauenkirche umfasst fünf Glocken. Foto: Meier

Die Anlage im Turm der Liebfrauenkirche erfuhr im Jahr 2016 eine umfassende Sanierung, dabei wurde in dem Glockenstuhl die Stahlaufhängung durch eine Holzlösung erneuert. Der Uhrenschlag ertönt von 6 Uhr morgens bis 22 Uhr nachts. In den Uhrenschlag sind alle Glocken eingebunden. Hierbei übernehmen die Glocken 2, 3, 4 und 5 den Viertelstundenschlag, Glocke 1 lässt die Stunde erklingen (Westminsterschlag).

Bei seinem diesjährigen Kontroll-Besuch hat Glockeninspekteur Uwe Kühnau von der Firma Schneider aus Schonach eine weitere Änderung im Geläut der Liebfrauenkirche einprogrammiert: Seit Anfang Juli ist samstags um 17.01 Uhr das Sonntagseinläuten zu hören. Dabei kommen alle Glocken zum Klingen. Kühnau bewunderte bei seiner Arbeit im Gernsbacher Turm, dass das Geläut sehr gut aufeinander abgestimmt ist und dass auch die Anschlagstärke der Klöppel gut ins Gesamtgefüge passt. 

Der Glockenschlag in Gernsbach ist harmonisch aufeinander abgestimmt. Quelle: Andreas Diemer

Für alle, die zukünftig das Glockenläuten bewusster wahrnehmen, wird vielleicht eine weitere Dimension eröffnet: Es ruft in uns die Ewigkeit und die Zerbrechlichkeit des Lebens in Bewusstsein, wie es in dem berühmten Gedicht von Friedrich Schiller „Die Glocke“ ausgedrückt wird.[7] „Glocken sind Klang gewordene Geschichte eines Ortes“, versichert Thomas Wilhelm, der Orgel- und Glockensachverständige der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN). „Wir müssen besser vermitteln, welchen Schatz wir mit den Glocken haben.”

Regina Meier

Der Artikel erschien im Gernsbacher Bote 3/2023, Seite 8-9

[1] https://www.ebfr-glocken.de, Abruf 15. August 2023

[2] Stadtarchiv Gernsbach Akte 1448

[3] Die Kunstdenkmäler des Landkreises Rastatt, Karlsruhe 1963, Seite 164

[4] Erzbischöfliches Archiv Freiburg, Kirchenbaulichkeit Amt Gernsbach, B22/8492, 1756-1832

[5] Stadtarchiv Gernsbach Akte 1448

[6] Stadtarchiv Gernsbach Akte 1448

[7] Wolfgang Vögele, Sono auribus viventium, Kultur und Theologie des Glockenläutens in Reformation und Moderne, Berlin 2017 

Klassische Wege: Ruhestein – Wildsee

Wir schaffens mal wieder an einem Sommertag im Schwarzwald zu wandern. Wegen der hohen Temperaturen wählen wir einen Wanderweg nahe dem höchsten Gipfel des Nordschwarzwalds. Wir wandern auf einem traditionellen Weg: vom Ruhestein zum Wildsee. Der Start ist beim Nationalparkzentrum Ruhestein. An diesem Sonntagmorgen bequem zu erreichen, ohne Andrang und Verkehr.

Ein Klassiker im Nordschwarzwald. Und doch haben wir diesen Weg noch nie gemacht. An diesem Sonntag haben sich dies mehrere Gruppen vorgenommen, unter anderem auch eine Gruppe, die mit einem Landtagsabgeordneten unterwegs ist und der wir immer wieder begegnen. Bereichernd war, dass beim Eingang zum Naturpark Nordschwarzwald eine Rangerin und ein Ranger mit einem mobilen Stand vor Ort waren und nicht nur Erklärungen zum Auerhahn gaben, sondern gleich noch ein prachtvolles Anschauungsexemplar dabei hatten. Doch neben all den Bilderbuch-Ansichten des Schwarzwaldes in diesen Höhen bleibt eines nicht aus: die zahlreichen dürren Fichten inmitten des Waldes. Der Wassermangel, die hohen Temperaturen und die Borkenkäferattacken haben dem Wald kräftig zugesetzt und durchsetzen die grünen Waldflächen mit manch kargen Skelletten von Baumstämmen. Doch wir sehen auch viele Bereiche, in denen sich der Wald wieder regeneriert: er ist abwechslungsreich und gut strukturiert. Tannen, Kiefern, Eichen lassen sich entlang des Weges entdecken.

Auf diesem Wegabschnitt findet sich auch das Euting-Grab. Eine gepflegte Anlage inmitten des Waldes erinnert an Geheimrat Professor Julius Euting (1838-1917).  Der international anerkannte Orientalist und Wissenschaftler hat sich um die Erschließung von Wanderwegen in den Vogesen und dem Schwarzwald einen Namen gemacht. Sein bevorzugtes Wandergebiet lag um den Ruhestein herum. Große Teile seiner Sammlung wurden an das Linden-Museum in Stuttgart geschenkt, seine Urne wurde auf dem Seekopf auf dem  Ruhestein beigesetzt. Alljährlich am 11. Juli wird hier in Erinnerung an ihn, Besuchern und Wanderern eine Tasse arabischen Mokkas ausgeschenkt. Dies hat sich der Arabienforscher in seinem Testament so gewünscht. Und die Julius-Euting-Gesellschaft kommt diesem Wunsch in Verbindung mit dem Heimat- und Museumsverein Freudenstadt bis heute nach. Anscheinend wird diese Veranstaltung gut besucht! Das sollten wir uns mal fürs nächste Jahr vormerken.

Trotz der hohen Temperaturen war diese Etappe vom Ruhestein zum Wildsee und zurück, die sich ja knapp unter der 1000-Meter-Grenze bewegte, eine angenehme Tagestour. Dank der gemütlichen Einkehr auf der Darmstädter Hütte und dem Abschluss in der Ruhestein-Schänke war das Ganze auch ein geselliges Vergnügen. Der gute Trunk aus frischen Himbeeren hat dazu seinen Beitrag geleistet.