„Geschichte in Schichten“ – Die Heilige Anna aus Gernsbach

Die Statue der Heiligen Anna aus Gernsbach wird derzeit einer gründlichen Untersuchung in den Werkstätten des Landesamtes für Denkmalpflege in Esslingen unterzogen. Dabei kommt unter den zahlreichen Malschichten eine anmutige Figur zutage, die allerdings durch die Witterungseinflüsse stark gelitten hat und über die Jahrhunderte so manche Überarbeitung erfahren hat. Bei einem Besuch von Mitgliedern des Arbeitskreises Stadtgeschichte  und Dominic Breyer, Vertreter des Stadtbauamtes Gernsbach, erhielt die Gernsbacher Delegation im Januar 2024 eine umfassende Darstellung der bisherigen Ergebnisse.

Im Mai 2023 wurde die Heilige Anna von ihrem Sockel vor dem Alten Rathaus gehievt und sorgfältig verpackt nach Esslingen gebracht. Dr. Dörthe Jakobs, Hauptkonservatorin und Leiterin Fachgebiet Restaurierung am Landesamt für Denkmalpflege, und Roland Lenz, Professor für Konservierung und Restaurierung von Wandmalerei, Architekturoberfläche und Steinpolychromie von der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart, haben die Statue angenommen und die wissenschaftliche Inspektion zugesagt. Bereits diese Zusage ist schon ein Beweis, dass die Denkmalpflege die Figur der Heiligen Anna zum wertvollen Kulturdenkmalbestand des Landes zählt.

Zwei Masterstudierende, Leandra Schöll und Benno Stadtherr, haben sich in den vergangenen acht Monaten intensiv mit der Heiligen Anna auseinandergesetzt und ihre Masterarbeit dieser Figur gewidmet. Dabei haben die beiden Absolventen in ihren akribischen Recherchen bedeutende Ergebnisse zutage gefördert. In den Werkstätten des Landesamt für Denkmalpflege in Esslingen stehen den beiden Masterstudierenden die modernsten Untersuchungs-Möglichkeiten zur Verfügung.

Fesselnd und verständlich aufgearbeitet konnten die beiden Studierenden die fachlich fundierte Analyse Besuchern und Fachleuten präsentieren. Selbst für Laienblicke ist der erhebliche Material- und Substanzverlust an den Fassungen der Figur offensichtlich. Verwitterungen liegen vor, in mehreren Probeentnahmen konnten die Schäden in den einzelnen Bereichen der Figur nachgewiesen werden. Anhand von hauchdünnen Entnahmen, welche mit dem bloßen Auge fast nicht sichtbar sind, konnten sie die Risse in den Malschichten, den biogenen Bewuchs und Mikroorganismen nachweisen. Aus einer winzig kleinen Probe wurde in der Werkstatt eine großformatige Aufnahme auf die Leinwand projiziert.

Anschaulich verdeutlicht die Ausführungen die „Malschichtschollen“ oder die „Verunklärung des Steinschnitts“. Anhand eines Stratigraphie-Profils zeigten die Studierenden die Gemeinsamkeiten von Postament, Säule und Skulptur. Weitere Probeentnahmen aus der Säule und dem Podest, auf dem die Heilige Anna vor dem Alten Rathaus stand, wurden von Leandra Scholl und Anna Lisa Krautheimer, der Betreuerin der Masterarbeit und Akademische Mitarbeiterin des Lehrstuhls Restaurierung, bei einer weiteren Exkursion nach Gernsbach, gemacht. Außerdem wurden die angrenzenden Häuserwände untersucht. Dabei wurden weitere erstaunliche Zusammenhänge deutlich herausgearbeitet.

Quelle: Stadtarchiv Gernsbach

Die Geschichte der Statue der Heiligen Anna liegt im Dunkeln. Dr. Cornelia Renger-Zorn, Gernsbach, hat bei ihren Recherchen zu dem Ebersteiner Vogt Bitzberger durch intensives Quellenstudium herausgefunden, dass der Ebersteiner Vogt diese Heiligenfigur zu Beginn des 18. Jahrhunderts vor seinem Haus aufstellen ließ. Er hatte seinen Sitz direkt neben dem Alten Rathaus. Noch auf Postkarten, die vor etwa 100 Jahren gedruckt wurden, zeigt sich, dass die Figur einst direkt vor dem Gebäude Hauptstraße 15 stand (dem heutigen Optikergeschäft Knapp). Durch das Anlegen eines breiteren Gehwegs und dem Entfernen eines zusätzlichen Eingangs rutschte die Figur mitsamt Sockel und Podest in die Hausnische zum Alten Rathaus und beförderten weiter die Witterungsschäden.

Einziger Lichtblick in der gesamten Schadensanalyse der Heiligenfigur war in der Präsentation die Aussage, dass der Sandstein selbst, aus der die Figur gefertigt ist, in einem guten Zustand ist. Allerdings sind Kittungen notwendig. Nachweisbar ist , dass die einzelnen Malschichten, wobei die Studierenden insgesamt 24 Schichten gezählt haben, erhebliche Schäden aufweisen. Sie stießen bei ihrer Untersuchung auch auf die ältesten Schichten und stellten zuunterst eine monochrome Fassung fest. Die ursprüngliche Fassung aus dem frühen 18. Jahrhundert war wohl eine Smaltefassung, für damalige Zeit typisch. Für Professor Lenz ist die Heilige Anna aus Gernsbach ein faszinierendes Beispiel, wie sich „Geschichte in Schichten“ darstellt.

Einig sind sich die Fachleute, dass es sich bei der Heiligen Anna aus Gernsbach um eine außergewöhnliche Figur handelt, deren Grazie bislang durch die zahlreichen Malschichten nicht in vollem Umfang zur Geltung kommt. Sie ist mit einem Strahlenkranz ausgestattet, der ebenfalls stark gelitten hat und den die Studierenden eingehend betrachtet haben. Dank aufmerksamer Gernsbacher konnten die ausgebrochenen Teile gefunden werden und werde wohl eines Tages wieder in den Kopfschmuck eingefügt werden. Auch das Buch, das die Figur in Händen hält und das prägnante Merkmal für die Heilige ist, hat stark gelitten. Wohl ist schon in der ersten Fassung aus dem frühen 18. Jahrhundert dieses Buch mit einer Goldfassung versehen. Ein ungewöhnliches Merkmal der Gernsbacher Anna ist die großformatige Sonne auf der Brust. Diese gehört nicht zu der typischen Ikonographie der Heiligen, macht dieses Kunstwerk allerdings zu einem unverwechselbaren Werk.

Eine mögliche Restaurierung von Figur, Postament und Säule bedarf erfahrener Fachleute, denn die Aufarbeitung verlangt wohl das ganze Können der Restauratoren-Zunft ab. Selbst für die derzeitige Prozess bedarf es das Zusammenspiel mit weiteren Fachleuten. Dies ist in den Werkstätten des Denkmalamtes möglich. So ist auch Teresa Kolar, Steinrestauratorin beim Landesamt für Denkmalpflege und Restauratorin für Wandmalerei und Architekturoberflächen, in die Arbeiten eingebunden. Interessant ist auch das unterschiedliche Alter und das Zusammenspiel von Podest und Säule, auf der die Heilige Anna bisher stand, insbesondere im Kontext der Architektur, wie Dr. Dörthe Jakobs vom Landesamt für Denkmalpflege, bei dem Besuch der Gernsbacher ausführte.

Für die Heilige Anna und die Stadt Gernsbach als Eigentümerin ist die umfassende Betrachtung in den Werkstätten des Landesamtes ein Glücksfall, denn für die Stadt fallen lediglich die Kosten für den Transport von Gernsbach nach Esslingen an. Dieser war wohl recht aufwändig, damit die historische Kleinod keinen Schaden davonträgt.

Die Studierenden wurden bei der Präsentation auch nach ihrer Einschätzung gefragt, wie eine Restaurierung aussehen könnte. Doch dazu muss die gesamte Untersuchung vorliegen. Mit bedacht werden müssen dabei natürlich auch die Kosten, denn die Restaurierung muss in einer Fachwerkstatt erfolgen. In Zeiten der Flaute in den öffentlichen Geldtöpfen werden dabei sicher auch Spendenaktionen vonnöten sein. Für den Erhalt und Wiederkehr in die Murgtalgemeinde, in der die Heiligenfigur seit über 300 Jahren ihren Platz hatte, ist da Ideenreichtum und Engagement gefragt. Die einzelnen kleineren bisherigen Aktionen aus der Bürgerschaft, der Jan-Brauers-Stiftung und dem Arbeitskreis Stadtgeschichte muss ein Gesamt-Konzept folgen, das auch die Möglichkeit des Crowd-Funding einbeziehen sollte.

Für die Studierende stellt die Heilige Anna aus Gernsbach nicht nur in technischer Sicht eine Herausforderung dar. Ihre Arbeit trägt den Titel „Untersuchung und Entwicklung eines Konservierungs- und Restaurierungskonzepts für Postament, Säule und Skulptur“. Somit geht ihre Aufgabe über die reine Schadensaufnahme hinaus. Dies trägt der modernen Denkmalpflege Rechnung, die durch ein Umdenken im Umgang mit dem Denkmal gekennzeichnet ist. Zur differenzierten Hochschulausbildung gehört auch die Einbettung in Beratung und Begleitung von Restaurierungsmaßnahmen.

Darüber hinaus ist noch nicht geklärt, was mit der Heiligenfigur geschieht, nachdem sie untersucht und restauriert ist? Wird sie wieder an Ort und Stelle aufgestellt und die Gernsbacherinnen und Gernsbacher hoch oben von ihrem Sockel grüßen? Welche Entscheidung trifft die Gernsbacher Stadtverwaltung zur weiteren Vorgehensweise? Vor allem, in welcher Fassung wird sie sich zukünftig präsentieren? Die Studierenden könnten diese Fragestellungen begleiten und dazu eine Einschätzung abgeben. Für sie zeigt sich an diesem herausragenden Kulturwerk in bester Weise, wie ein Kunst- und Kulturgut mit dem Anspruch seiner Erhaltung zum ständigen Dialog auffordert. Denn mit der Untersuchung und mit der Restaurierung ist es allein noch nicht getan. Nur wenn das Kunstwerk von der Öffentlichkeit angenommen und geschätzt wird, entfaltet es seine wahre Größe.

Für die Stiftung Denkmalschutz, die sich in Gernsbach bereits beim Storchenturm und den Zehntscheuern engagiert hat, gibt es eine klare Maxime: „Denkmale zu schützen bedeutet auch, Geschichte, Geschichten und Zeitgeist an authentischen Orten der Erinnerung lebendig zu halten.“ Mal sehen, wie sich dies an der Figur der Heiligen Anna aus Gernsbach umsetzen lässt.

Regina Meier

Eine Kurzfassung des Artikels erscheint im Gernsbacher Bote 1/2024, Erscheinungstermin: 19. März 2024

Schicksalsjahr 1923 – Teil 3

Großherzogin Luise (sitzend Mitte) besuchte während des Ersten Weltkriegs ein Lazarett in Gernsbach, das von Johanna und Casimir Otto Katz in Scheuern gestiftet worden war. Foto: Familienarchiv Katz

Großherzogin Luise war im April 1923 im Alter von 84 Jahren verstorben. Zu der Trauerfeier kamen über 30 Vertreter deutscher Fürstenhäuser. Tausende Menschen zogen an dem Sarg vorüber, um Abschied von der Landesmutter zu nehmen. Nur wenige Glocken läuteten beim Trauerzug zur Grabkapelle des Großherzoglichen Hauses in Karlsruhe . Das lag aber nicht an Anordnungen der demokratisch gewählten Landesregierung, sondern schlichtweg am Fehlen der Glocken, die während des Ersten Weltkriegs eingeschmolzen und noch nicht ersetzt worden waren. Auch in Gernsbach trauerte man um die einstige Landesherrin, war sie doch mehrfach in Gernsbach zu Besuch gewesen. Noch während des Ersten Weltkriegs hatte sie ein Lazarett in Scheuern besucht, das von Johanna und Casimir Otto Katz gestiftet worden war.

Bürgermeister Georg Menges

Im Jahr 1923 war Georg Menges Bürgermeister der Stadt, sein Amtssitz war das Alte Rathaus am Marktplatz.[i] Er war 1919 der erste demokratisch gewählte Bürgermeister sowie der erste „Berufs-Bürgermeister“, zuvor übten die Stadtoberhäupter ihre Aufgabe als Teilzeitbeschäftigung aus. Im zur Seite stand der demokratisch gewählte zehnköpfige Gemeinderat. 1923 waren darin die Zentrumspartei,die Sozialdemokratische Partei (SPD), die Deutsche Demokratische Partei (DDP) und Deutschnationale Volkspartei (DNVP) vertreten.[2] Außerdem gab es den Bürgerausschuss mit 48 Mitgliedern, eine weitere lokalpolitische Einrichtung.

Georg Menges erhielt das Bundesverdienstkreuz. Quelle: Landesarchiv Baden-Württemberg, Staatsarchiv Freiburg W 134 Nr. 067969a

Bürgermeister Menges hatte das Amt bis 1933 inne. Da wurde er auf Anweisung des Reichskommissars Robert Wagner (NSDSAP) in Schutzhaft genommen und musste „aus politischen Gründen“ das Amt niederlegen. In dem gegen ihn eingeleiteten gerichtlichen Verfahren wurde er wohl freigesprochen, doch in ein öffentliches Amt ließen ihn die Nationalsozialisten nicht zurückkehren. Gleichzeitig musste er seine Dienstwohnung in der Badner Straße 2 räumen. Mit seiner Frau Anna, geborene Wallraff, die er 1922 geheiratet hatte, und seinen Kindern zog er nach Freiburg. Anna Wallraff war die Tochter von Anna und Friedrich Wallraff, Wirt und Metzger in der Waldbachstraße. Erst 1946 übernahm er wieder öffentliche Ämter und gehörte von 1953 bis 1960 dem Landtag Baden-Württemberg an.[3]

1952 erhielt er das Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. In dem 2019 veröffentlichten „Gedenkbuch Politisch Verfolgte Abgeordnete 1933-1945“ ist ihm ein Eintrag gewidmet.

Noch weiteres Notgeld

Aufwändig gestalteter 10 Milliarden Schein aus dem Jahr 1923. Quelle: Stadtarchiv Gernsbach

Die galoppierende Inflation des Jahres 1923 ließ auch die Druckmaschinen für Banknoten auf Hochtouren laufen. So kam auch Gernsbach zu individuellen Noten, die immer höhere Nennbeträge auswiesen. Im September 1923 stellte die Lokalzeitung „Der Murgtäler“ den neuen 10-Milliarden-Mark-Geldschein ganz detailliert vor mit Schloss Eberstein in der Mitte, umrahmt von einem Ebersteiner Grafen mit einem Pokal und einem Weinfass, mit dem Pokal in der Hand, und einem biederen Bürger (der Ähnlichkeit mit dem Stadtoberhaupt hatte) mit einem Krug Murgwasser.

 

Die Spruchbänder darauf sagen: „Den Ebersteinern half der edle Schloßbergwein, dagegen uns nur noch der Nullenschein.“ „Der Sprung zur Tiefe rettet einst den Grafen kühn, wann wird der Marksprung aufwärts uns aus der Papierflut ziehn?“

Aufnahme am Marktplatz: Inflationsjahrgang 1923. Zu Erkennen sind auf dem Foto: Herbert Fischer, Reinhold Hartmann, Reinhold Hellmann, Fritz Meixner, Werner Rothfuß und Albrecht Wenk. – Quelle: Stadtarchiv Gernsbach. Nachlass Franz Chemelli

Doch kaufen konnte man sich für diesen graphisch gelungenen Geldschein nicht viel: Bei der Herausgabe kostete eine Butter 8 Millionen Mark, ein Roggenbrot 500.000 Mark und ein Ei 250.000 Mark – und auch diese Preise waren nicht lange stabil. Erst mit der Umsetzung der Währungsreform endete der Spuk der Hyperinflation und es herrschten wieder reelle Preise.

In späteren Jahren karikierten die Gernsbacher dies: So wurden in einem Umzug mit Schulkindern des Jahres 1923 diese als „Gernsbachs Inflationsjahrgang“ beschrieben.

Hitler-Putsch am 9. November 1923

Zu Ende des Jahres 1923 spitzte sich nicht nur die Inflation zu, sondern auch die politische Situation in Deutschland entwickelte sich dramatisch.  Am Freitag, 9. November 1923 versuchte Adolf Hitler in München zum ersten Mal, politische Macht zu erlangen. Auch wenn sein Putschversuch niedergeschlagen wurde, so war er doch Vorbote für die Entwicklung des nationalsozialistischen Deutschlands.

 

Titelseite des “Murgtäler – Gernsbacher Tageblatt” vom 9. November 1923: Preßzensur. Quelle Archiv des Landkreises Rastatt

In Gernsbach kamen die Nachrichten von dem Hitler-Putschversuch umgehend an. Bereits in der Freitagsausgabe der Lokalzeitung „Der Murgtäler/Gernsbacher Bote“ spiegelten sich die sich überschlagenden Ereignisse wieder. So erschien der „Murgtäler“ am 9. November 1923  mit einer weißen ersten Seite: „Pressezensur“. Als Adolf Hitler am Morgen des 9. November mit seinen Anhängern zur Feldherrenhalle marschierte, hatte er noch die vage Hoffnung, dass er die öffentliche Meinung auf seine Seite ziehen konnte. Doch nach einem Handgemenge, das mit einem Feuergefecht endete und 14 Tote forderte, wurde der Putschversuch niedergeschlagen. Bereits  am Samstag, 10. November 1923 verkündete der Murgtäler/Gernsbacher Bote „Hitler-Putsch zusammengebrochen“… „Ein schnelles Ende“.

Ende der Flößerei

Eine Epoche ging 1923 formell zu Ende. Am 25. September 1923 verkündete ein Erlass des badischen Arbeitsministers das Erliegen der Flößerei auf der Murg. Faktisch ruhte schon seit 1913 die Flößerei vollständig, das letzte Floß der Murgschiffer ist wohl bereits 1896 die Murg hinunter geschwommen. Die wirtschaftlich an Bedeutung zunehmende Papier- und Holzindustrie kämpfte um die zur Verfügung stehenden Wasserkräfte. Die Entwicklung war unaufhaltsam. Seit 1895 hatte der Floßbetrieb stark abgenommen. Waren es in den Jahren 1886 bis 1895 noch jährlich etwa 640 Floße, die die Murg hinunterschwammen, so waren es in den Jahren bis 1905 nur noch 14 Floße jährlich, ab 1907 werden keine Floße mehr gezählt. Gegen die Aufhebungsverfügung von 1923 wird von Seiten der Industrie noch Einspruch beim Staatsministerium eingelegt, der jedoch verworfen wird. Das Amt erwiderte: „Die Erweiterung des Straßen- und Eisenbahnnetzes und die Verbesserung der Transportmittel (Kraftwagen) … haben das Flößen … vollständig verdrängt.“[4] Hinzu kam der Bau des Murgkraftwerkes und der Schwarzenbachtalsperre 1922.

Ölberg in Reichental

Der Ölberg in Reichental wurde 1923 geschaffen. Foto: Pirmin Sieb

Ein lokales Ereignis 1923 gab besonders in Reichental Anlass zur Freude. Nach langen Planungen wurde die Idee von Pfarrer Ludwig Popp umgesetzt. Am Ortseingang von Reichental wurde ein „Ölberg“ angelegt und mit einer 2,40 Meter hohen Christusfigur und einem ähnlich großen Engel mit Kelch markant gestaltet. Damit sollte an einer gut sichtbaren Stelle an die Opfer des Ersten Weltkriegs erinnert werden und ein Mahnmal für den Frieden und für die Verständigung der Völker geschaffen werden. Auch dieser Auftrag wurde durch die Inflation beeinflusst. So wurden der beauftragte Bildhauer Roland Martin aus Offenburg teils mit Naturalien vergütet, überliefert ist Bienenhonig und Tresterschnaps.

So manches Ereignis von 1923 wurde in diesem Jahr wieder lebendig und wurde in den letzten drei Ausgaben des „Gernsbacher Boten“ aufgegriffen. Auch die erst kürzlich stattgefundene 100-Jahr-Feier in Reichental beim Ölberg gestattete einen weiteren Rückblick in die Zeit vor einem Jahrhundert. Die Sammlung von Inflations-Geld aus dem Stadtarchiv präsentierte der Arbeitskreis Stadtgeschichte anlässlich des Tag des offenen Denkmals im Storchenturm. Im Rahmen des Vortragsabends zum 9. November, dem Schicksalstag der Deutschen, im Kornhaus wurde auch an den 9. November 1923 in München und vor Ort erinnert. Bei der Spurensuche von zwei Amerikanerinnen, die in diesem Sommer auf den Spuren ihres 1923 ausgewanderten Großvaters nach Gernsbach kamen, wurde die ganze wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation vor 100 Jahren aufgearbeitet. Spätestens dann wurde klar, die die sogenannten goldenen zwanziger Jahren viele Schattierungen hatten.

Regina Meier

[1 Martin Walter, Prägende Jahre zwischen den Kriegen 1914-1945, in: „800 Jahre Gernsbach – die Geschichte der Stadt“, Gernsbach 2019, Seite 203ff.

2] Der Murgtäler vom 22. Januar 1923, IMG 7875, eingesehen im Archiv des Landkreises Rastatt

[3] https://www.landtag-bw.de/contents/gedenkbuch/abgeordnete/VA_Menges%2c%20Georg%20(Jakob)~402.html abgerufen 25.10.2023, 12.10 Uhr

[4] Max Scheifele, Die Murgschifferschaft, 1988, Seite 399

 

Der Artikel erscheint im Gernsbacher Bote 4/2023, Erscheinungstermin: 28. November 2023

 

 

Traditions-Restaurant Brüderlin ist geschlossen

Jutta Marko leitete fast 40 Jahre das Brüderlin. Foto: Meier

Jutta Marko verabschiedete sich Ende Oktober als Wirtin des Brüderlins. Seit 1984 leitete sie das Gasthaus, die ersten Jahre mit ihrem Ehemann. In der Tradition ihrer Großeltern und Eltern steuerte sie das Lokal fast 40 Jahre in ungebrochener Beliebtheit.

Mit ihrem Rückzug vom Brüderlin endet eine Ära. Jutta Marko hat den Gästen einen Raum gegeben, in dem man ganz selbstverständlich Gemeinschaft pflegen konnte, in dem man behaglich essen, trinken, diskutieren, feiern, zusammensitzen konnte. Es wird nicht nur die jahreszeitlich geprägte Speisekarte fehlen, die behagliche Stube voller Erinnerungsstücke, die selbstverständliche Anlaufstelle in der Altstadt – eine Institution in Gernsbach, die Historie und Gegenwart so gastlich verbindet. Dieser Ort bot etwas Unverwechselbares, ein Ort mit eigener Geschichte. Das Brüderlin diente nicht nur dem Konsum, sondern der menschlichen Begegnung. Es herrschte in den Stuben eine stimmige Atmosphäre, der man sich nicht entziehen konnte, eine belebende Mischung von Stammtisch- und Speiselokal.

Den Abschied hatte sich Jutta Marko nicht leicht gemacht, die Entscheidung seit Jahren vor sich hergeschoben. Sie gibt unumwunden zu: „Wenns nicht so viele schöne Stunden gegeben hätte, hätte ich viel früher aufgehört.“ Dabei konnte sie auf den Rückhalt der Familie setzen. Bruder Ernst-Ludwig Singer stand ihr stets tatkräftig zur Seite. Sohn Sigi und Tochter Manuela kamen zu besonderen Anlässen in den letzten Jahren, um ihr unter die Arme zu greifen.

Einen tiefen Einschnitt schuf die Corona Krise. Doch auch in diesen schwierigen Jahren wollte Jutta Marko nicht die Flinte ins Korn werfen. Nun ließen ihr die gesundheitlichen Einschränkungen und die Personalenge ihr nun keine andere Wahl. Mit den Ansprüchen an eine angemessene Weiterführung des erreichten Standards habe sich auch kein Nachfolger gefunden.

Das Brüderlin in einer Zeichnung von 1889.

Als Jutta Marko ihr Lokal zu Ende Oktober 2023 schloss, verloren auch 13 Mitarbeiterinnen aus sechs Nationen ihren Arbeitsplatz. Doch sie fallen nicht ins Leere, durch die langfristige Ankündigung der Beendigung des Betriebs konnten die Kräfte angemessene neue Stellen finden. Schließungen sind derzeit im Gastgewerbe kein Einzelfälle. Deutschlandweit haben sich die Anzahl der Gasthöfe von 2014 von 14.700 auf 9.100 Betriebe im Jahr 2021 verringert. Das sind fast 40 Prozent! Und die Zahl wird weiter zurückgehen. „Neben dem wechselhaften Wetter stellten 64,5 Prozent der Betriebe einen Rückgang der Gästezahlen wegen der zunehmenden Konsumzurückhaltung fest“, bestätigt der Verband des Deutschen Hotel und Gaststätten Verbandes. Dazu kommen noch die Kostenexplosion in den Bereichen Lebensmittel und Energie, Personal und die zunehmende Bürokratie, und die Sargnägel für die Gastronomie sind geschmiedet. Die Verbandsworte: “Wenn noch mehr Restaurants und Cafés verschwinden, würde der Verödung von Innenstädten weiter Vorschub geleistet werden,“ lassen sich in Gernsbach auf einen einfachen Nenner bringen: Wenn das Brüderlin als Gaststätte die Tür schließt, ist eine bedeutende Attraktion der Altstadt verloren.

Die Concession vn 1892 mit Brandweinausschank. Quelle: Famiienarchiv Brüderlin

Großvater Ernst Brüderlin übernahm 1892 das Gasthaus in der Hauptstraße. Er begründete den Betrieb einer Schankwirtschaft mit Branntweinausschank. Nach seinem Tod 1928 führte Ehefrau Julie das Gasthaus weiter. Die Zeiten des Zweiten Weltkriegs und die Nachkriegszeit waren für die Wirtsfrau und deren Tochter Julchen nicht einfach. Nach der Hochzeit von Julchen Brüderlin mit Siegfried Singer, der vom Hotel Löwen in Gernsbach rechts der Murg auf die andere Murgseite wechselte, führten sie die „Restauration Brüderlin“ weiter.

Deren Tochter Jutta trat wie selbstverständlich in die Fußstapfen ihrer Eltern und Großeltern. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Wolfgang Marko übernahm sie 1984 das Ruder in der Wirtschaft. Anfänglich war noch Vater Siegfried im Hintergrund aktiv, Mutter Julchen war bis ins hohe Alter immer im Gastraum präsent.

Historische Postkarte des Brüderlin. Quelle: Stadtarchiv Gernsbach

Jutta Marko setzt die Reihe der „starken Frauen des Brüderlin“ fort. Ihre Lehrzeit als Köchin absolvierte sie im Gasthaus Nachtigall, das damals für Wildgerichte einen hervorragenden Namen hatte. Nach ihrem weiteren beruflichen Weg im Badischen Hof Steigenberger, Baden-Baden, wo sie ihren späteren Ehemann kennenlernte, erreichte sie den Gesellenbrief mit der stolzen Note von 1,0. Doch fand sie trotzdem keine geeignete Stelle. „Damals traute man Frauen noch nicht Spitzenpositionen in der Gastronomie zu“, bekennt sie in der Rückschau.

Jutta Marko hatte immer ein Auge auf die Stadtgeschichte Gernsbachs. Hier ein Tuch aus dem Jahr 1953 mit Gernsbach-Motiven. Foto: Meier

Jutta und ihr Mann Wolfgang haben das Lokal  gewandelt. Das Ambiente behielten sie bei, die behagliche Ausstattung mit alten Stichen und historischen Ansichten von Gernsbach und Gernsbachern an den Wänden wurde weitergepflegt. Sie haben sie die Entwicklung vom Vesperlokal zum Speiselokal geschafft, wo abwechslungsreiche und saisonale Kost selbstverständlich ist. Damals wurde die täglich wechselnde Tageskarte entwickelt, nicht nur wöchentlich, wie Jutta Marko im Gespräch betonte. „Wo wird denn noch die Brühe für Suppen und Soßen selbst gekocht“, gab Ernst-Ludwig Singer bei einem Gespräch am Vormittag mit Blick in die Küche und die dampfenden Kesseln zu bedenken.

Jutta Marko hat nach dem überraschenden Tod ihres Mannes vor 23 Jahren wie selbstverständlich weitergemacht. So wurde die Gaststube zur Kinderstube ihrer Tochter Manuela und Sohn Sigi. Überhaupt fühlte man sich in der Gaststube wie in der guten Stube der Familie. Gasthaustür war auch gleichzeitig Haustür.

Wer hier eintrat, war nicht in Eile, wollte nicht einen schnellen Durst löschen oder im Stehen etwas essen. Gemächlicherer Rhythmus war angesagt.

Im Brüderlin fühlte man sich immer willkommen, gleichgültig, um welche Uhrzeit man kam oder mit wieviel Personen. Wenns ein paar mehr Leute waren, als an einen Tisch passten, wurde kurzfristig umgestellt. Unvergessen werden die vielen Nachmittagskaffees sein, in denen man nach einer Beerdigung zusammenkam. Bei diesen Anlässen wurde ganz deutlich: das Wesentliche ist das Gespräch, das Miteinander, auch in schweren Situationen.

Im Brüderlin waren sie alle zuhause: Die traditionsreichen Stammtische, die sich turnusgemäß trafen, die Puppentheater-Künstler, die Wingolfiten bei ihren Gernsbach-Treffen, die Fasentgruppen, die Feuerwehr-GruppenProbe, die Sport- und Kulturvereine. Hier wurde Partnerschaft zu Baccarat mit Leben gefüllt und über das bisschen Rauch der brutzelnden Merguez während des Altstadtfestes gelächelt.

Jutta Marko vor dem Plakat von 1977. Foto: Meier

Das Plakat „Wer Gernsbacher nicht gern hat, kann Gernsbacher gern ho“ grüßt seit über 40 Jahren im Eingangsbereich. So viele andere Kleinode finden sich an den Wänden, auf Fotos, auf den Simsen, in den Regalen. Doch dies ließe sich ja alles verschmerzen, wenn das „Brüderlin“ nicht mehr wäre als ein Raum mit vielen alten Fotos und guter Küche. Es ist das Lächeln und Willkommen von Jutta Marko, ihre unbeugsame Art, sich von Widrigkeiten nicht gleich den Wind aus den Segeln nehmen zu lassen, den Freuden und Sorgen ihrer Gäste zuzuhören, eine bodenständige Antwort parat zu haben – all das wird fehlen.

Jutta Marko und ihr Bruder können sich noch gar nicht vorstellen, wie die Zeit nach der Schließung aussehen wird. Zu tief war in den letzten Jahren der Tages- und Jahresablauf auf die Gastwirtschaft ausgerichtet. Auf jeden Fall will sie sich ihren Wunsch erfüllen, Veranstaltungen in Gernsbach zu besuchen und mal am kulturellen Leben in Gernsbach teilzunehmen – diesmal nicht hinter der Theke. Mit einem herzlichen Dank an die Familie, an alle Vereine, Gruppen und Familien, die oft über Generationen die Treue zum Brüderlin gehalten haben, blättert sie gedankenversunken durch das Erinnerungsbuch. 

Bei den vielen Abschieds-Essen, die in den letzten Wochen vor der Schließung stattfanden, stand ein Thema im Mittelpunkt. „Wo treffen wir uns nach dem 30. Oktober?“ Und die Gäste, die an den runden Tischen mit ihrem prägnanten Holzplatten zusammenkamen, stellten plötzlich fest, dass das Brüderlin mehr war als ein Ort der guten Küche und zentralen Lage. Man kam hier zusammen und knüpfte oft längst verlorene Fäden. Nachbarn, die sich schon lange nicht mehr getroffen hatten, ehemalige Schulkameraden, die sich fast nicht mehr erkannten, Vereinskollegen, die man sonst nur im Vorbeigehen kurz grüßt, waren hier für ein gemütliches Gespräch offen. Nicht der Tresen wie in den modernen Kneipen ist der Mittelpunkt, sondern der Tisch aus massivem Holz. Nicht das Kommen und Gehen machte die Seele des Lokals aus, sondern das Sitzen und Zusammensein.

Jutta Marko blättert in dem Abschiedsalbum. Foto: Meier

Eine besondere Geste zum Abschied wurde von den Waldschäddern, Gernsbach, angestoßen. Sie haben eine Art Gästebuch aufgelegt, in denen man ein Grußwort schreiben durfte. Herausgekommen ist eine Sammlung der Wertschätzung der Gäste und Freunde, die sich über Jahre aufgestaut hat und oft nicht zum Ausdruck gekommen ist. Für Jutta Marko und ihre Familie birgt es einen Schatz an Erinnerungen und Dank für die Gastfreundschaft über die vielen Jahre im Haus Hauptstraße 3. Darin wird sicherlich noch lange geblättert und hält die Erinnerung an viele Gäste und Begegnungen wach. „Dies Gasthaus bleibt unvergessen / in den Annalen dieser Stadt / ist ihm ein fester Platz bemessen“, lautet ein Gedichtzeile in dem Buch. 

Ein persönlicher Abschiedsgruß von meiner Seite: In meinem Gernsbach-Mosaik fehlt zukünftig ein Stein. Ich freue mich für Jutta, dass sie eigenbestimmt ihren weiteren Lebensabschnitt gestaltet und sehe den zukünftigen Begegnungen entgegen.

Regina Meier

Der letzte Abend im Brüderlin: 30. Oktober 2023. Foto: Meier

 

Der Artikel erscheint im Gernsbacher Bote 4/2023, Erscheinungstermin: 28. November 2023

Schicksalsjahr 1923 – Teil 2

Im vergangenen Gernsbacher Bote 2/2023 erschien Teil 1 des Artikels über das „Schicksalsjahr 1923“. Hiermit wird der Rückblick auf das ereignisreiche Jahr vor 100 Jahren weiter fortgesetzt.

Auch für einen Gernsbacher war 1923 ein Schicksalsjahr. Der neunzehnjährige Fritz Schorn hatte seine Heimatstadt Gernsbach verlassen und war nach Amerika ausgewandert.

1922 war die Siedlung „Kolonie“ zwischen Schwarzwald- und heutiger Friedrich-Abel-Straße für die Werksangehörigen von Schoeller & Hoesch fertiggestellt worden. Quelle: Festschrift 1956 Jahre Schoeller & Hoesch

Ein wesentlicher Grund waren die schlechten Verdienstmöglichkeiten in dem von den Nachkriegswirren gebeutelte Deutschland, das politische und wirtschaftliche Existenzkämpfe erlebte. Die Inflation beherrschte das Wirtschaftsleben. Die Verdienste der Arbeiter wie auch der Beamten hielt mit den Teuerungsraten der Preise[1] nicht Schritt. So wandten sich die Lehrer der hiesigen Realschule in einem Schreiben vom Dezember 1923 an die vorgesetzte Behörde und reklamierten. Die Teuerungsraten in Gernsbach wären eine der höchsten in Baden. „Die Teuerung ist hier deshalb so groß, weil Gernsbach Industrie- und Kurort ist und in einem Verbraucherbezirk und nicht in einem Erzeugerbezirk liegt.“ Das Protestschreiben weist ebenfalls darauf hin, dass der größte Arbeitgeber am Ort, Schoeller & Hoesch, durch die firmeneigenen Werkswohnungen und der Versorgung ihrer Arbeiter mit Brenn- und Lebensmitteln viel für seine Mitarbeiter getan hat. 1922 war die Siedlung „Kolonie“ zwischen Schwarzwald- und heutiger Friedrich-Abel-Straße für die Werksangehörigen fertiggestellt worden.[2]

Viele Gernsbacher kamen jedoch nicht in den Genuss dieser Vergünstigungen. Viele verloren ihre gesamten Ersparnisse, die innerhalb kürzester Zeit nichts mehr wert waren. Selbst die Kirchengeläut in Gernsbach musste unter der Inflation leiden. Die katholische Kirchengemeinde hatte 1922 vier Glocken bestellt, die Glockengießerei stellte vor Anlieferung allerdings Nachforderungen. Stadtpfarrer Steinbach klagte: „dass die Glocken versandfertig seien, aber nicht abgeschickt würden, wenn wir nicht eine Nachforderung von circa drei Millionen Mark anerkennen würden.“  Letztlich stimmte die Gemeinde zu: „Sofort zugreifen, sonst bezahlen Sie in wenigen Tagen das Doppelte und Dreifache!“ Schließlich wurden am 23. Januar 1923 die neuen Glocken geliefert.

Durch die Inflation wurden ganze Bevölkerungsklassen enteignet, ein uraltes Vertrauen zerstört und ersetzt durch Furcht und Zynismus: „auf was war noch Verlass, auf wen konnte man bauen, wenn dergleichen möglich war“, summierte Golo Mann über diese Zeit in Deutschland.[3]

August Menges, Bürgermeister von 1919 bis 1933, erreichte in den 1920er Jahren, dass auch in Gernsbach Quäker-Speisungen ausgegeben wurden. Foto: Stadtarchiv Gernsbach

Besonders die Familien mit Kindern litten unter den Verhältnissen. Bereits 1920 war eine Kinderhilfe eingerichtet worden, eine staatliche Geldsammlung, deren Erlös Kindern aus Gernsbach, aber auch in ganz Baden zugute kam.[4] Außerdem hatte Bürgermeister Menges eine Hilfe der Quäker aus den USA erreicht. Die Quäkerspeisungen begannen bereits 1921 und unterstützten Gemeinden, „die in Bezug auf die Lebensmittelversorgung unter mißlichen Verhältnissen leiden.“ Für die Bewilligung dieser Hilfe musste zuerst eine ärztliche Untersuchung aller Kinder stattfinden, mit Größe und Gewicht.[5] Diese Listen belegen die schlechte Ernährungslage, unter der vor allem die Kinder litten. Dank der Quäker-Hilfe wurden wöchentlich Lebensmittel an die Kinder in den Schulen ausgegeben, die Unterlagen dazu finden sich noch heute im Stadtarchiv Gernsbach. 

Doch nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch befand sich Deutschland in einer Existenzkrise. Die Ruhrbesetzung und die politische Instabilität verunsicherte die Bevölkerung in ihrer Erwartung der Zukunft. So war in dem jungen Gernsbacher Fritz Schorn – wie bei vielen anderen – die Entscheidung gereift, dieses krisengeschüttelte Deutschland zu verlassen. Um nach Amerika zu gelangen, musste man einen „Paten“ im Land nachweisen.

Handgeschriebener Brief
Der erste Brief des Auswanderers Fritz Schorn aus dem Jahr 1923. Fotos (wenn nicht anders angegeben): Familienarchiv Schorn

Für Fritz Schorn bürgte sein Cousin Louis, der ihm die 110 Dollar für die Schiffs-Passage vorstreckte und im März 1923 noch 20 Dollar sandte: 10 Dollar für die Einwanderung, 2 Dollar für die Zugfahrt von Gernsbach nach Hamburg. „So werst du 8 Dollar uberich haben. Nimm gut acht von das Geld, du kannst es notwendig brauchen vielleicht“, schrieb Louis in seinem amerikanisch eingefärbten Deutsch.[6] Und einen weiteren Rat, den ihm der Cousin in den Inflationszeiten gab:  „Wechsel keinen amerikanischen Dollar, wenn es nicht notwendig ist, weil deutsches Geld ist nix wert in diesem Land.“

Zwei Männer an einer Theke
Fritz Schorn trat bereits 1927 in die US Coastal Guard ein.

Doch in Amerika erwartete ihn kein einfacheres Leben. Der hehre Wunsch, den Problemen in Deutschland zu entfliehen, folgte eine nüchterne Erkenntnis. In dem ersten Brief von Fritz Schorn, er noch in deutscher Schrift verfasste, hört man die Ernüchterung raus: „ins gelobte Land Amerika, wo Milch und Honig fließt, so man Geld hat“. „Hier muß man auch arbeiten, um Geld zu verdienen.“ Durch die Farmarbeit, die ihm sein Cousin anbot, verdiente er nicht genügend, um das geliehene Geld zurückzubezahlen. So wechselte er zu einer Fabrikarbeit, dann trat er in die US Coast Guard ein, die ihm die Einbürgerung in die USA erleichterte. Dies brachte ihn schließlich nach Kalifornien, wo er schließlich in San Francisco Fuß fasste. Dort traf er auf eine junge, deutsche Auswanderin aus Norddeutschland und gründete eine Familie. Sie kauften ein Haus in der quirligen kalifornischen Metropole. Bald folgte ein Wochenendhaus in den nahen Redwood-Wäldern, die bei ihm Erinnerungen an den Schwarzwald auslösten. Daraus wurde später sein fester Wohnsitz, noch heute wohnen seine Nachfahren dort.

Gruppenfoto von 1950
Bei dem ersten Klassentreffen des Jahrgangs 1904 nach dem Zweiten Weltkrieg, zu dem Fritz Schorn mit seiner Frau 1950 kam, wurde er herzlich willkommen geheißen. Christine Schorn mit Blumenstrauß sitzt rechts von ihrem Mann. Auf der anderen Seite Metzgermeister Anselm.

Den Kontakt zu Gernsbach hielt er sein Leben lang aufrecht. Er kam zeitlebens zu Klassentreffen des Jahrgangs 1904 und zeigte seinen beiden Töchtern in mehreren Reisen sein Elternhaus, in dem seine Schwester bis in die 1990er Jahre wohnte. Das Haus in der Waldbachstraße, das direkt an der Stadtmauer liegt, war für ihn immer Anlaufstelle bei den Besuchen in seiner Heimatstadt. In den siebziger Jahren brachte er seine Enkelinnen nach Gernsbach. Diese halten bis heute die Verbindung nach Gernsbach und den zwischenzeitlich freundschaftlich verbundenen ehemaligen Nachbarn.

Zwei Frauen sitzen vor der Kulisse von Gernsbach.
Die Enkelinnen von Fritz Schorn machten einen Besuch in der Heimatstadt des vor 100 Jahren ausgewandertn Großvaters. Foto: Meier

Bei einem kürzlichen Besuch der Enkellinen und der Ur-Enkelin in Gernsbach – fast genau 100 Jahre, nachdem ihr Urgroßvater seine Heimat verlassen hatte – ging sie den Spuren der Familie in den 1920er Jahren nach. Sie nahm nicht nur die Familien-Geschichte in Blick, es wurden auch Parallelen zu heute gesucht: 2023 werden die Angst vor der Inflation und der Kampf um Rohstoffe öffentlich diskutiert wie es 1923 an der Tagesordnung war. Allerdings – was uns als Bedrohung durch Krieg und Energiefragen derzeit beschäftigt, ist mit den Zuständen von 1923 nicht vergleichbar. Doch lohnt sich immer wieder der Blick zurück in die Vergangenheit.

Regina Meier

Der Artikel erschien im Gernsbacher Bote 3/2023, Seite 6-7

[1] Regina Meier, in: Gernsbacher Bote 2/2023 Seite 6f.
[2] Wolfgang Froese, in: Gernsbacher Bote 3/2014, S. 7f.
[3] Golo Mann, Deutsche Geschichte des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts, Frankfurt 1958, Seite 679
[4] Martin Walter, Prägende Jahre zwischen den Kriegen 1914-1945, in: „800 Jahre Gernsbach – die Geschichte der Stadt“, Gernsbach 2019, Seite 207
[5] Stadtarchiv Gernsbach,  Akte  4887
[6] Familienarchiv Schorn, privat, San Francisco

Begeisterndes DENKmal Altstadt

Schauspieler-Truppe von Cornelia Renger-Zorn führte die Zuschauer l in die Revolutions-Zeit. Foto: Meier

Flanieren von Denkmal zu Denkmal in der Gernsbacher Altstadt – mit Musik und Führungen! Das Konzept der Aktion DENKmal Altstadt ging am Samstag, 1. Juli, voll auf! Dank der guten Organísation durch das Kulturamt der Stadt Gernsbach mit Melanie Mußler und ihrem Team liefen die Vorbereitungen reibungslos ab, Akteure und Eigentümer der einzelnen Orte waren in die Planung eingebunden. Der Eröffnung durch Bürgermeister Julian Christ vor dem Kornhaus folgte gleich der erste musikalische Beitrag durch die Big Band des Albert-Schweitzer-Gymnasiums. Und dann gings Schlag auf Schlag. Im Bürgersaal des Alten Rathauses spielte das Violinensemble der Musikschule Gernsbach unter Leitung von Ulrike Merz auf.

Musica Antiqua trat im Keller des Alten Rathauses auf. Foto: Meier

Musica Antiqua hatte ihren Auftritt im Keller des Alten Rathauses. Im Kornhaus wurde durch das Kornhaus-Team bewirtet, und man konnte die Ausstellung zu Friedrich Weinbrenner auf eigenen Faust erkunden. In drei Führungen Mal gab Dr. Ullrich Schumann, Präsident der Weinbrenner-Gesellschaft, Erläuterungen zum Leben und Werk von Friedrich Weinbrenner. Auf den ausgestellten Tafeln wurde  über die Gernsbacher Stadtplanung des genialen Bauherrn berichtet. Vor dem Kornhaus trat zu abendlicher Stunde der Schulchor des Albert-Schweitzer-Gymnasiums unter Leitung von Eckhard Kleinbub auf. Zu Beginn war das Lampenfieber beim Chor aufgrund der zahlreichen Zuschauerinnen und Zuschauer groß, doch bald legte sich dies und die Sängerinnen und Sänger überzeugten durch ihren Auftritt.

Begehrt war die Teilnahme an der Führung zur 1848er Revolution. Cornelia Renger-Zorn hatte eigens für diesen Tag eine Szenenspiel zur Revolution von 1848 geschrieben. Wie zu erwarten, hatte sie auch eine Rolle für einen Freiwilligen aus dem Publikum vorgesehen – der Zufall wollte es, dass auch Bürgermeister Julian Christ in diese Rolle schlüpfen durfte.

Wolfgang Froese, Stadtarchivar, begrüßte die Besucher im historischen Gewand des 19. Jahrhunderts vor dem ehemaligen Gasthaus “Goldener Bock”, Hauptstraße 20, und gab eine erste Hinführung zu den Ereignissen 1848 in Gernsbach, bevor in den Keller des Gebäudes geführt wurde. Dort erwartete die Besucher gemütliches Ambiente, und die Schauspieler-Truppe von Cornelia Renger-Zorn tat ihr übriges, dass man sich schnell in die Revolutions-Zeit zurückversetzt fühlte. Sie schrieb eine Konversation zwischen Casimir Griesbach (Demokrat, Republikaner), der von Günther Schermer gespielt wurde, und Wilhelm Grötz (konservativ-konstitutionell), dargeboten von Wolfgang Froese. Vielleicht hat auch der Ausschank eines Getränkes durch die Truppe das Übrige dazu beigetragen, dass man sich gar nicht mehr von den Bänken im Keller erheben wollte.

Bernd Säubert führte durch den Keller neben dem Kornhaus und konnte viele Details über die “Unterwelt” von Gernsbach erzählen. Foto: Meier

Das Highlight waren die beiden privaten Keller, die eigens zu diesem Anlass geöffnet wurden. Das eine war der Keller von Hauptstraße 28/30 und der andere der Wolkensteinsche Keller in der Turmgasse. Bernd Säubert führte durch den Keller neben dem Kornhaus und konnte viele Details über die “Unterwelt” von Gernsbach erzählen. Dr. Alexander Hoff ermöglichte den Zugang der Wolkensteinschen Keller und gab einen Einblick in die Sanierung mittelalterlichen Gewölbes. Dort wurden auch Erinnerungen an die 1970er Jahre wach, als die Keller während der ersten Altstadtfeste zu Bewirtung geöffnet waren – bei dem aktuellen Bauzustand unvorstellbar.

In den Zehntscheuern führten Stephan de Laporte, Regina Meier und Irene Schneid-Horn durch zwei der historischen Stockwerke, Mitglieder des Forums Zehntscheuern standen für Fragen die ganze Zeit zur Verfügung. Ein Schmankerl am Rande bildete der Besuch eines Brautpaares. Zufällig kam ein Brautpaar, das kurz zuvor im Bürgersaal des Alten Rathauses getraut worden war, bei den Zehntscheuern vorbei und war von dem Ambiente des Gebäudes so fasziniert, dass sie es spontan für ihr Hochzeitsfotos-Shooting wählten. Von dieser Stelle nochmals herzlichen Glückwunsch!

Kanonsingen “Mach mit” vor dem KUNSTRaum, Hauptstraße 23. Foto: Annegret Kalvelage

Ein Schmankerl bot Sabine Giersiepen in der Hauptstraße 23. Vor dem KUNSTRaum, wo Stein- und Holzskulpturen von Annegret Kalvelage ausgestellt werden, hatte sie eingeladen zum Kanonsingen “Mach mit”. Mit Unterstützung von Freunden versammelte sie an drei Terminen sangesfreudige Menschen, die zufällig oder gezielt vorbeikamen und den mehrstimmigen Chor bereicherten. Eine ansteckende Mitmach-Aktion.

Und zwischendrin konnte man einkehren in die Lokale der Stadt. Bestes Sommerwetter tat sein übrigens hinzu, dass die Besucher bis in die Dunkelheit hinein den Stadtbuckel “nuff und runner” unterwegs waren.

Als es langsam dunkel wurden, konnten auch die Aktiven und die Mitarbeiterinnen der Tourist-Info aufatmen – kein störender Regen sowie rundum zufriedene Besucherinnen und Besucher. Bis die letzten Keller geschlossen und alle Tore der Zehntscheuern verriegelt waren, dauerte es noch etwas. Am nächsten Tag war der Bauhof nochmal aktiv, baute Hinweisschilder und Absperrungen wegen der Abgrenzungen der mobilen, zusätzlichen Toiletten ab und das tägliche Altstadtleben nahm seinen Lauf.

Im Rückblick ein tolles Zusammenspiel von Verwaltung, Kulturschaffenden, Altstadt-Bewohner und Altstadt-Aktiven. Danke für dieses harmonische Miteinander. Die Veranstaltung ruft nach einer Wiederholung. Nächstes Jahr?

Regina Meier

Der Artikel erschien im Gernsbacher Bote 3/2023, Seite 13

Die Glocken der Liebfrauenkirche

Weithin klingen die Glocken Gernsbachs über die Stadt. In diesem Jahr kamen zu dem abgestimmten Geläut der Kernstadt noch eine weitere Besonderheit hinzu: Die Glocken der Liebfrauenkirche erklingen nun zusätzlich am Morgen und am Abend zum Gebetsläuten.

Pfarrer Markus Moser hat dies wieder eingeführt. Die Tradition reicht weit zurück in die Geschichte und hat auch noch heute in der lärmerfüllten Zeit ihre Berechtigung. Das Läuten lässt die Menschen bewusst wahrnehmen, dass es noch etwas anderes als ein gehetztes und vergängliches Erdenleben gibt. Die evangelische Jakobskirche hat über die Jahre hinweg das Mittagsläuten um 12 Uhr und das Abendläuten um 19.30 Uhr bewahrt. Nun ergänzt die Liebfrauenkirche mit dem Läuten der Glocke Heiliger Erzengel Michael um 7 Uhr das vielstimmige Geläut (außer am Wochenende). Auch das 12-Uhr-Läuten der Liebfrauenkirche wird von der Michaelsglocke bestritten. Nur beim Abendläuten kommt nach der Michaelsglocke zum Abschluss noch die Glocke Heiliger Schutzengel zu Gehör, die kleinste Glocke in dem fünfstimmigen Geläut.

Fünf Glocken in der Liebfrauenkirche

Die größte Glocke der Liebfrauenkirche ist der Namenspatronin der Kirche geweiht und zeigt in dem umlaufenden Fries Abbildungen zu den Sieben Schmerzen Marias. Hier die Flucht aus Ägypten. Foto: Meier

Insgesamt umfasst die Glockenstube der Liebfrauenkirche fünf Glocken, die jeweils einen Namen, eine eigene Inschrift und Verzierung haben[1]:
1 Maria Mater Dolorosa. Der Durchmesser der Glocke beträgt 1300 mm, Gewicht 1500 kg, Ton es. In einem umlaufenden Fries sind Bilder eingegossen, die die sieben Schmerzen Marias symbolisieren.
2 Heiliger Erzengel Michael, Durchmesser 1160 mm, Gewicht 1100 kg, Ton f. In einem umlaufenden Fries sind Bilder eingegossen, die die vier Tugenden darstellen. Deutlich zu erkennen sind eine Waage (Sinnbild für die Gerechtigkeit), eine Säule (die Stärke), Gefäße (Mäßigung: Mischung von Wasser und Wein) und ein Spiegel (die Klugheit: der kluge Mensch hält sich einen Spiegel vor, und denkt über seine Taten nach).
3 Seliger Bernhard von Baden, Durchmesser 980 mm, Gewicht 640 kg, Ton as.
4 Joseph, Durchmesser 840 mm, Gewicht 380 kg, Ton b. Sie besitzt vorne eine Inschrift. „Brüder, den guten Gott liebet, christliche Nächstenliebe übet.“
5 Heiliger Schutzengel, Durchmesser 750 mm, Gewicht 280 kg, Ton c.

Das Läuten der Glocke wird heute über eine elektrische Steuerung geregelt, die Glocken werden von Motoren angetrieben. Ältere Gernsbacher erinnern sich noch, dass bis in die 1960er Jahren die Glocken durch Seile vom Turmraum aus geläutet wurde. Der Messner Haitz musste damals noch die Uhr von Hand aufziehen und dazu mehrere Stockwerke hoch in den Kirchturm steigen, erinnern sich ehemalige Messdiener, da sie ihn bei seinem Gang begleiten durften. Im Stadtarchiv findet sich dazu ein Beleg: Immerhin erhielten die beiden Kirchendiener für das Aufziehen der Kirchenuhren und das Zeitläuten eine Entschädigung von täglich eine halbe Stunde Arbeitszeit aus der Stadtkasse bewilligt. Dies ist die Besonderheit: Während das Läuten zum Gottesdienst und Gebet kirchliche Angelegenheit ist, obliegt der Stadt die Zeitansage.[2] Auch wenn es heute nicht mehr so bedeutsam ist, dass vom Kirchturm die Zeit strukturiert wird, so ist es doch ein Symbol für die Einbindung des Menschen in die soziale, kulturelle und religiöse Gemeinschaft.

Geschichte der Glocken

Die älteste Glocke im Geläut der Liebfrauenkirche ist die Josephs-Glocke, die sich seit 1923 im Kirchturm befindet. Foto: Meier

Die derzeit älteste Glocke im Turm der Liebfrauenkirche wurde vor 100 Jahren installiert. Die Geschichte der Glocken in Gernsbach ist wesentlich älter.  Schon 1626 sind drei Glocken nachgewiesen. Die „Burger-Glocke“ wird 1774 erwähnt.[3] Aufschlussreich sind die Kostenverteilungen im 17. und 18. Jahrhundert zwischen Stadtverwaltung sowie evangelischer und katholischer Gemeinde bei den Reparaturen an den Glocken. Diese wird auch bei der Erweiterung der Liebfrauenkirche im 19. Jahrhundert dokumentiert.[4]

Ein Archivdokument von 1782 beschreibt die Kostenverteilung, als große gesprungene Glocke der Liebfrauenkirche wiederhergestellt wurde. Die Kosten dafür wurden „nach uralter Observanz“ zur Hälfte von der Stadtverwaltung, zum anderen von der Katholischen Kirchengemeinde getragen.[5]

Einschneidende Veränderung in den Glockenbestand der Stadt gab es während des Ersten und Zweiten Weltkrieges. Etwa 65.000 Glocken wurden im Ersten Weltkrieg in Deutschland zu Kanonen umgegossen. Viele Kirchengemeinden betrachteten das „Glockenopfer” als einen patriotischen Akt. Glocken waren wegen ihrer Bronze kriegswichtiges Material und wurden während zuerst freiwillig abgegeben, dann zwangsweise eingezogen.

3 Glocken auf einer Ladefläche
Eine seltene Aufnahme hat die Abgabe der Glocken 1917 auf der Waage bei der ehemaligen Kelter in der Gottlieb-Klumpp-Straße dokumentiert. Foto: Familienarchiv Bohnert

Im September 1917 wurden Glocken der evangelischen und katholischen Kirche abgegeben und nach Rastatt überführt. Von der Liebfrauenkirche wurden die Glocken 1,2 und 4 mit insgesamt 1.500 kg und von der St. Jakobskirche die Glocken 2 und 3 mit insgesamt 1.500 kg eingezogen. Bereits im Dezember 1919 werden sie als „bereits zerschlagen“ vermerkt.[6]

Bei der Wiederbeschaffung, die von der Stadt aus „moralischen Gründen“ zur Hälfte finanziert wurde, wurde die Vereinbarung getroffen, dass sich die Kirchen zum „üblichen Zeitläuten verpflichten“. Am 8. Juli 1921 stimmte der Bürgerausschuss unter dem Vorsitz von Bürgermeister Menges zu, dass die Neuanschaffung der großen Kirchenglocke für die evangelische und katholische Kirche von der Stadtkasse übernommen wird.

Die protestantische Gemeinde schloss einen Vertrag mit der Firma Bachert in Karlsruhe ab, während sich die katholische für die Firma Grüninger in Villingen entschied. Beauftragt wurden von der katholischen Gemeinde vier Glocken mit Liefertermin Februar 1922. Doch die Hyperinflation der 1920er Jahre warf die Pläne über den Haufen. Während von der evangelischen Kirche bereits Weihnachten 1921 das neue Geläut zu hören war, wurden der katholischen Gemeinde im Mai 1922 erstmal Lohnnachforderungen in Rechnung gestellt. Schließlich sah sich der damalige Stadtpfarrer Karl Steinbach gezwungen, die Gemeindemitglieder zu beruhigen, die sich nach dem neuen Geläute erkundigten. „Meine Pfarrkinder wurden von Woche zu Woche ungeduldiger, aufgeregter,“ schrieb der Pfarrer. Schließlich erhielt er die Nachricht vom Glockengießer, „dass die Glocken versandfertig seien, aber nicht abgeschickt würden, wenn wir nicht eine Nachforderung von circa drei Millionen Mark anerkennen würden.“ Hintergrund war die rasant ansteigende Inflation, die eine unvergleichbare Geldentwertung zur Folge hatte. Die weiteren Verhandlungen ermöglichten es, dass  am 21. Januar 1923 es endlich soweit war. Die neuen Glocken wurden in der Liebfrauenkirche installiert.

Erneutes Glockensterben im Zweiten Weltkrieg

Der nächste Einschnitt im Glockenbestand kam mit dem Zweiten Weltkrieg. Nach einer Anordnung vom 15. März 1940 durften die Kirchenglocken nur bei Tage geläutet werden. „Von 18 bis 8 Uhr haben sämtliche Kirchenglocken zu schweigen.“ Doch diese Anordnung war bald nicht mehr von großer Bedeutung. Denn bereits im April 1940 wurden die Kirchenglocken der Stadt wieder eingezogen. Der Rohstoff wurde als kriegswichtig eingestuft. Im April 1940 dokumentiert der Meldebogen für Bronzeglocken der Kirche für die Liebfrauenkirche, dass von den vier Glocken drei abgeliefert wurden. Danach wurden die Glocken mit der Meldenummer 1, 2 und 4 mit insgesamt  abtransportiert. Nur die Josephsglocke 3 durfte bleiben. Somit ist sie heute die älteste Glocke der Liebfrauenkirche.

Foto: Familienarchiv Bohnert

Das Abliefern der Glocke wurde damals als Eingriff  in die Identität der Gemeinde empfunden. Daher ist es verständlich, dass nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Anschaffung von neuen Glocken sehr wichtig für die Pfarrgemeinde war. Bereits 1950 wurde vom Geistlichen Rat Ernst Bernauer die Anschaffung von vier Glocken beantragt. „Die kath. Kirchengemeinde will zu der vorhandenen b’Glocke noch vier weitere Glocken mit den Tönen es-f-as-c anschaffen.“ Diesem Antrag wurde umgehend stattgegeben. Mit vielen Aktionen wurde in Gernsbach damals die Anschaffung unterstützt. So fand im Oktober 1949 ein „Seifen-Kistel-Rennen“ mit 80 kleinen Rennkünstlern zugunsten der katholischen und evangelischen Kirchenglocken statt. Als Höhepunkt des Oktoberfestes wurden „8 Große Ausscheidungs-Boxkämpfe unter der bewährten Kampfleitung von Ex-Weltmeister Max Schmeling“ veranstaltet.

Aktuelle Anpassungen

5 Glocken in der Glockenstube
Das Geläut der Liebfrauenkirche umfasst fünf Glocken. Foto: Meier

Die Anlage im Turm der Liebfrauenkirche erfuhr im Jahr 2016 eine umfassende Sanierung, dabei wurde in dem Glockenstuhl die Stahlaufhängung durch eine Holzlösung erneuert. Der Uhrenschlag ertönt von 6 Uhr morgens bis 22 Uhr nachts. In den Uhrenschlag sind alle Glocken eingebunden. Hierbei übernehmen die Glocken 2, 3, 4 und 5 den Viertelstundenschlag, Glocke 1 lässt die Stunde erklingen (Westminsterschlag).

Bei seinem diesjährigen Kontroll-Besuch hat Glockeninspekteur Uwe Kühnau von der Firma Schneider aus Schonach eine weitere Änderung im Geläut der Liebfrauenkirche einprogrammiert: Seit Anfang Juli ist samstags um 17.01 Uhr das Sonntagseinläuten zu hören. Dabei kommen alle Glocken zum Klingen. Kühnau bewunderte bei seiner Arbeit im Gernsbacher Turm, dass das Geläut sehr gut aufeinander abgestimmt ist und dass auch die Anschlagstärke der Klöppel gut ins Gesamtgefüge passt. 

Der Glockenschlag in Gernsbach ist harmonisch aufeinander abgestimmt. Quelle: Andreas Diemer

Für alle, die zukünftig das Glockenläuten bewusster wahrnehmen, wird vielleicht eine weitere Dimension eröffnet: Es ruft in uns die Ewigkeit und die Zerbrechlichkeit des Lebens in Bewusstsein, wie es in dem berühmten Gedicht von Friedrich Schiller „Die Glocke“ ausgedrückt wird.[7] „Glocken sind Klang gewordene Geschichte eines Ortes“, versichert Thomas Wilhelm, der Orgel- und Glockensachverständige der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN). „Wir müssen besser vermitteln, welchen Schatz wir mit den Glocken haben.”

Regina Meier

Der Artikel erschien im Gernsbacher Bote 3/2023, Seite 8-9

[1] https://www.ebfr-glocken.de, Abruf 15. August 2023

[2] Stadtarchiv Gernsbach Akte 1448

[3] Die Kunstdenkmäler des Landkreises Rastatt, Karlsruhe 1963, Seite 164

[4] Erzbischöfliches Archiv Freiburg, Kirchenbaulichkeit Amt Gernsbach, B22/8492, 1756-1832

[5] Stadtarchiv Gernsbach Akte 1448

[6] Stadtarchiv Gernsbach Akte 1448

[7] Wolfgang Vögele, Sono auribus viventium, Kultur und Theologie des Glockenläutens in Reformation und Moderne, Berlin 2017 

Schicksalsjahr 1923

Aufnahme der Murgpartie um 1925. Deutlich zu lesen ist das Firmenschild „Rheinische Creditbank“, die größte Bank in Baden bis 1929, die 1919 eine Filiale in Gernsbach gründete. Quelle: Stadtarchiv Gernsbach

Jahrzehntelang wurde das Jahr 1923 nicht sonderlich von der Geschichtsforschung beachtet. Die Folgen von 1933 und der Machtergreifung Hitlers beschäftigten die Historiker wesentlich mehr. Doch nun zum 100. Jahrestag rückt das Jahr stärker in den Fokus. Nicht so sehr die goldenen zwanziger Jahre stehen im Mittelpunkt, mehr die Auswirkungen der Hyper-Inflation und die Besetzung des Ruhrgebietes durch die Franzosen, um die dortige Kohle- und Koksproduktion zur Erfüllung der Reparationsverpflichtungen zu sichern. Historiker urteilen mittlerweile, dass 1923 ein Wendepunkt in der europäischen Geschichte war.[1]

Fritz Schorn wanderte 1923 als 19-Jähriger von Gernsbach in die USA aus. Foto: Familienarchiv Schorn

Auch für einen Gernsbacher war 1923 ein Schicksalsjahr. Der neunzehnjährige Fritz Schorn verließ Gernsbach und wanderte nach Amerika aus. Diese Entscheidung hat er sich nicht leicht gemacht, doch er wollte raus aus dem kleinen Haus, in dem er mit seinen Eltern und seinen drei Geschwistern lebte. In dem historischen, direkt auf der Stadtmauer Gernsbachs aufgesetzte Haus am Waldbach hatte er seine Kindheit verbracht.

Im Jahr 1923 stieg die Zahl der Auswanderer nach Amerika wieder an.[2] Während des Ersten Weltkrieges war eine Auswanderung nicht möglich, nach 1920 nahm sie stark zu.[3] Während es 1920 noch 19 Personen in Baden waren, die sich nach Amerika aufmachten, zählte man 1921 insgesamt 639 und 1923 sogar 7.154 Menschen. Dies war die höchste Zahl der jährlichen Auswanderer. Da ist deutlich die wirtschaftliche Notlage herauszulesen, unter denen die Badener litten. Insgesamt verließen zwischen 1921 und 1933 rund 42.000 Badener das Land. Fritz Schorn aus Gernsbach war also einer von vielen, die sich aus den schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen aufmachten, um in Amerika bessere Verdienstmöglichkeiten zu finden.

Zu Beginn der zwanziger Jahre herrschte eine beispiellose Inflation und erschwerte die Lebensbedingungen in Deutschland. Die Reparationszahlungen, zu denen Deutschland nach dem Ende des Ersten Weltkriegs verpflichtet wurden, heizte die Geldentwertung an. So finden sich im Stadtarchiv Gernsbach Nachweise zu den Preisen der wichtigsten Lebensmittel, die regelmäßig an das Badische Landespreisamt gemeldet werden mussten.[4]

Am 16. Februar 1920 kostete in Gernsbach ein Roggenbrot 74 Pfennig, 1 kg Butter 12 Mark, ein Ei 42 Pfennig. Die schwierigen Verhältnisse werden schon in den Anmerkungen angedeutet: „Die Kartoffelversorgung war ungenügend und die im Schleichhandel dafür bezahlten Preise sehr verschieden.“ 

Am 23. August 1922 war der Butterpreis bereits bei 480 Mark, ein Ei bei 9,50 Mark, Roggenbrot bei 85 Mark. Und die Preise stiegen unaufhaltsam. Am 20. August 1923 wurde für Roggenbrot 500.000 Mark, für Butter 8 Millionen Mark und für ein Ei 250.000 Mark aufgeführt. Und wenn man erwartet, dass es da keine Steigerung mehr geben könnte, hat weit gefehlt. Bei der Meldung vom 5. November 1923 steht der Butterpreis mit 250 Millionen Mark in der Liste, für Roggenbrot und Eier werden schon gar keine Preise mehr gelistet, da es schon rasante Preisveränderung zwischen dem Vormittags- und Nachmittagspreis gab.

Im  November 1923 wurden die Preise in der Statistik nur noch in Billionen angegeben: 1 Roggenbrot 50 Billionen , Butter 6 Billionen, ein Ei 100 Millionen Mark.[5] Eine Dimension, die unsere Vorstellungskraft übersteigt, astronomische Zahlen, unkalkulierbar.

Erst die Währungsreform, die im Oktober 1923 von dem Kabinett Stresemann beschlossen wurde, machte diesem Spuk ein Ende. Mit der Einführung der Rentenmark am 15. November 1923 stabilisierten sich die Verhältnisse, die Inflation war überwunden.[6] Im Januar 1924 bedankt sich das Statistische Landesamt Karlsruhe bei den Gemeinden für die „tatkräftige Unterstützung bei der Beschaffung der Unterlagen“ und teilt mit, dass nun die „Erhebung und Einsendung der Kleinhandelspreise in Wegfall“ kommt. Sicher zur Erleichterung des Bürgermeisteramtes. Die erste Statistik im Januar 1924 verzeichnet daher wieder „vernünftige“ Preise. Ein Roggenbrot kostet 33 Pfennig, Butter 4 Mark, ein Ei 22 Pfennig. [7]

Geldschein 100 Milliarden Mark wurde 1923 von der Stadt Gernsbach ausgegeben.

In den Jahren der Hyperinflation konnte auch die Ausgabe der Zahlungsmittel nicht Schritt halten. Seit 1920 wurde Notgeld gedruckt, 1923 liefen die Druckmaschinen für Banknoten auf Hochtouren. Die Reichsbank konnte den Bedarf an Papiergeld nicht mehr decken, Münzen waren schon längst verschwunden. Nun gaben Städte, Firmen und Geldinstitute Geldscheine aus. Beim Innenministerium in Karlsruhe hatten die Gemeinden Gaggenau, Gernsbach, Weisenbach und Forbach beantragt, dass sie eigenes Geld ausgeben dürfen, weil die Betriebe keine Löhne und Gehälter mangels Geldscheinen auszahlen konnten . Den „gemeinsamen Druck von 70 Millionen Mark Notgeld“ wurde den Gemeinden per Telegramm genehmigt. Doch schon vier Wochen später waren diese Scheine nur die Hälfte wert.

Kunstvoll waren die Geldnoten in den Inflationsjahren verziert.

So kam auch Gernsbach zu individuellen Noten. Bereits im Oktober 1922 wurde von der Stadt Gernsbach neue Scheine ausgegeben, von einer Stückelung von einem Zwanzig-Mark-Schein mit einem Bild von Gernsbach bis zu einem 5.000-Mark-Schein.[8]  Im September 1923 folgten ein 10 Millionen-Mark-Schein, sowie 10- und 100-Milliarden-Schein. Dieser Schein ist ein herausragendes Exemplar, bildet er doch den Storchenturm mit einem sinnigen Spruch ab: „Froh steht der Storch auf seinem Turm, wenn’s kalt wird, fliegt er weiter. Oh Mensch vertrau! Nach jedem Sturm wird’s Wetter wieder heiter.“ Alfred Kusche, Professor an der Karlsruher Baugewerbeschule, hatte für Gernsbach schön gestaltete Geldscheine entworfen und versah sie mit sinnigen Sprüchen. Irgendwann sparte man sich die aufwändige Gestaltung, man kam mit den Verzierungen nicht mehr nach.

(Fortsetzung folgt)

Regina Meier

[1] Ruhrbesetzung 1923 – Ein Jahr spricht für sich“, Hrsg. Werner Boschmann, Bottrup 2023, Seite. 198

[2]  Willi A. Boelcke, Sozialgeschichte Baden-Württembergs 1800 – 1989, Seite 303

[3] Karl Stiefel, Baden, Band 1, Karlsruhe 1977, Seite 432

[4] Stadtarchiv Gernsbach, Verwaltungssachen, GE Abt. II, Nr. 3315A 

[5] Stadtarchiv Gernsbach, Verwaltungssachen, GE Abt. II, Nr. 3315A

[6] Volker Ulrich, Deutschland 1923 – Das Jahr am Abgrund, München 2022, Seite 258

[7] Stadtarchiv Gernsbach, Verwaltungssachen, GE Abt. II, Nr. 3315A 

[8] Hans Meyer, Das Papiernotgeld von Baden 1914 – 1924, Berlin 1973, Seite 16f.

Der Artikel erschien im Gernsbacher Bote 2/2023, Seite 6-7

 

 

 

 

 

Maler Ludwig Dill vor 175 Jahren geboren

Nahe der Hauptschule Gernsbachs findet sich die Ludwig-Dill-Straße. Sie ist nach dem bekannten Maler Ludwig Dill benannt, der 1848 in Gernsbach geboren wurde – vor nunmehr 175 Jahren.

Dill gehört zu den prominenten Künstlern des 19. Jahrhunderts und seine Werke sind in Museen und Sammlungen auf der ganzen Welt zu finden.

Geburtshaus Ludwig Dill in Gernsbach

Der Vater, mit dem gleichen Vornamen Ludwig, kommt 1845 als Amtsassessor ans Gernsbacher Bezirksamt und ist während der badischen Revolution als Vertreter des Großherzogs im Amt. Die frühen Kindheitsjahre verbringt Ludwig in seinem Elternhaus am Stadtbuckel in Gernsbach, in der Hauptstraße 45 und eine Tafel erinnert noch heute an den berühmten Sohn der Stadt. 1856 wird der Vater nach Durlach versetzt. Von dort aus zieht die Familie weiter nach Stuttgart, wo der Sohn Ludwig am Polytechnikum zunächst Ingenieurwissenschaften, dann Architektur studiert. Vom Berufswunsch des Sohnes als Maler sind die Eltern zunächst nicht begeistert, doch die zahlreichen Erfolge des Sohnes beruhigen sie. „Wenn ich meinen Eltern gesagt hätte, ich wolle Kaminkehrer werden, hätten sie nicht mehr entsetzt sein können  als über den Maler“, schreibt er in seinen Memoiren.

Ludwig Dill wird schon früh künstlerische Anerkennung zuteil, seine Werke sind gefragt. Den Durchbruch als Maler erreicht er durch die Werke, die er bei seinen Studienreisen durch Italien geschaffen hat.1893 wird er Preisrichter für die Weltausstellung in Chicago berufen und 1900 nach Paris.

Dill ist bei führenden Künstlervereinigungen Deutschlands jener Jahre eine treibende Kraft. 1893, im Gründungsjahr der Münchner Sezession, übernimmt er deren Geschäftsleitung und wird in Dachau sesshaft. Auch hier gibt die Landschaft dem Maler viele neue Impulse für die künstlerische Weiterentwicklung. 1894 gründet er mit anderen Kollegen außerdem die Künstlervereinigung Neu-Dachau. 1899 wird Dill an die Akademie in Karlsruhe berufen und zum Professor für Landschaftsmalerei ernannt. Diese Stellung hält er bis zum Eintritt in den Ruhestand 1919 inne.

Ludwig Dill. Quelle: Stadtarchiv Karlsruhe

Nach dem Ersten Weltkrieg wird Ludwig Dill zu einer hoch geachteten Persönlichkeit, die Verleihung der Ehrendoktorwürde der Technischen Hochschule Karlsruhe ist nur ein Ausdruck davon. Mehrere Ausstellungen in Mannheim, Karlsruhe und München würdigen sein Schaffen als Maler.

Gernsbach ließ es sich nicht nehmen, den berühmten Künstler bereits zu seinen Lebzeiten zu ehren. So wurde 1935 anlässlich seines 87. Geburtstages eine der „neu in Angriff genommenen Straßen“ in Ludwig-Dill-Straße benannt. Zum 90. Geburtstag wird Dill zum Ehrenbürger der Stadt Gernsbach ernannt.

Ludwig Dill: Hochwasser am Altrhein.

Zum Dank schenkt Ludwig Dill seiner Geburtsstadt das Ölgemälde „Hochwasser am Althrein“. Er hat das Bild in einer Ausstellung in Baden-Baden gezeigt und ist der Meinung, es „kann sich sehen lassen“. Dill äußert aufgrund der Größe des Werkes die Bitte, ob „im Rathaus oder sonst wo, eine geeignete Wand für das Bild“ vorhanden sei. Das Gemälde entstand 1913 und ist in der Reihe seiner imposanten Baumbilder zu sehen. Es zeigt knorrige Bäume in einem überschwemmten Landstrich und ist ganz in gelb-grünen Tönen gehalten.

Die Gesundheit des Malers erlaubt ihm nicht, 1938 die Ehrenbürgerwürde Gernsbachs persönlich entgegen zu nehmen. Auf die Einladung des Bürgermeisters nach Gernsbach antwortet der Jubilar: „Ihrer gütigen Einladung nach Gernsbach zu kommen, wird bei meinem Zustand, der hoffnungslos erscheint, kaum in Erfüllung gehen.“ Ludwig Dill stirbt am 31. März 1940 in Karlsruhe.

1998 fand eine große Gemäldeausstellung anlässlich seines 150. Geburtstages statt. Unter der künstlerischen Leitung des Museumsvereins Dachau konnte die Ausstellung auch im Gernsbacher Rathaus gezeigt werden und bot eine Übersicht über die verschiedenen Schaffensperioden. Gleichzeitig erschien ein umfassender Werkkatalog, der einen umfassenden Einblick in die Werke Ludwig Dills ermöglicht.

Zwischenzeitlich sind auch die bislang in Privatbesitz befindlichen Memoiren des Künstlers in Buchform erschienen und dokumentieren die Verbindungen des Gernsbachers zu seiner Geburtsstadt.

Ludwig Dill wurde Ende der zwanziger Jahre Ehrenvorsitzender der “Deutschen Kunstgesellschaft”. Er hat sich darin auch als 2. Vorsitzender engagiert und muss daher auch die Ziele des Vereins mitgetragen haben. Diese Vereinigung sprach sich für eine “völkische deutsche Malerei” aus. Diese nationalsozialistische Organisation wandte sich heftig gegen die künstlerische Moderne und beeinflusste die Diskussionen über moderne Ausdrucksformen mit antisemitischen Parolen. Die Deutsche Kunstgesellschaft trat dem nationalsozialistisch gelenkten “Kampfbund für deutsche Kultur” bei, der späteren NS-Kulturgemeinde.

Für die weitere Recherchen über die Verbindungen von Ludwig Dill zu den nationalsozialistischen Kreisen bedarf es der Historiker, die Archivmaterialien und Korrespondenzen aufzuarbeiten. Wesentliche Eckpfeiler dazu wurden bereits im Stadtarchiv Karlsruhe und im Landesarchiv Baden-Württemberg veröffentlicht.

Siehe auch „Gernsbacher Bote“ 1/1995 sowie 1+2/1998 und 1/2010
Bärbel Schäfer – Ludwig Dill, Leben und Werk, Dachau 1998
Ludwig Dill – Lebenserinnerungen, Dachau 2010
Michael Koch – Ludwig Dill; in: Badische Biographien NF 3 (1990)

Der Artikel erschien im Gernsbacher Bote 1/2023, Seite 10-11

Nachtrag: Ludwig Dill und die Deutsche Kunstgesellschaft

Richard Fuchs – vergessen und wiederentdeckt

Richard Fuchs (1887, Karlsruhe -1947 Wellington, Neuseeland)

Vor 75 Jahren verstarb der Architekt und Komponist Richard Fuchs in seinem neuseeländischen Exil. Für Gernsbach hatte er als Architekt der 1928 erbauten neuen Synagoge eine besondere Bedeutung. Da er als Jude in den dreißiger Jahren verfolgt wurde, wählte er 1938 die Auswanderung und emigrierte nach Neuseeland. Allerdings wurden dort seine künstlerischen Werke zu seinen Lebzeiten nicht anerkannt. Sein Schicksal war es, in Deutschland verfolgt worden zu sein, weil er Jude war und in Neuseeland ignoriert zu werden, weil er Deutscher war.

Die vier Brüder Fuchs als Soldaten im Ersten Weltkrieg. Foto: Familienarchiv Fuchs

Richard Fuchs wurde 1887 in Karlsruhe als Sohn einer Holzhändler-Familie geboren. Er wuchs mit seinen drei Brüdern und seiner Schwester in einer wohlhabenden und angesehenen Familie auf. Die jüdische Familie war völlig integriert in die Gesellschaft Karlsruhes. In der Familien-Historie wurde immer weitergegeben, wie seine Großeltern als Zuwanderer aus einfachen Verhältnissen nach Karlsruhe gekommen waren und „sie später stolz waren auf den beschiedenen Beginn der Familie“. Alle vier Söhne der Familie meldeten sich im Ersten Weltkrieg freiwillig als Soldaten.  

Sein musikalisches Talent führte Richard Fuchs zu einem Studium der Musik an der Hochschule in Karlsruhe, dem folgte ein Studium der Architektur in Berlin. 1923 promovierte er an der Technischen Hochschule Karlsruhe. Richard Fuchs heiratete 1920 Dora Stern. Das junge Ehepaar bezog eine stattliche Villa in der Kriegsstraße 120 in Karlsruhe. Für Richard Fuchs waren die zwanziger Jahre eine erfolgreiche Zeit als Architekt. Er entwarf Wohn- und Kaufhäuser, Hotels und Fabriken.

Die Gernsbacher Synagoge, entworfen und gebaut von Richard Fuchs. Quelle.: Generallandesarchiv Karlsruhe

Den einzigen öffentlichen Auftrag erhielt Richard Fuchs 1927 mit dem Bau einer Synagoge für die jüdische Gemeinde in Gernsbach. Bereits 1923 hatte Fuchs auf der Großen Deutschen Kunstausstellung in Karlsruhe einen jüdischen Kultraum geschaffen. Die Gernsbacher Synagoge war für ihn wie für Gernsbach ein herausragendes Bauwerk.

Wie Dr. Ulrich Schumann in den Begleittexten zu der Ausstellung des Arbeitskreises Stadtgeschichte zur Gernsbacher Synagoge 2018 schrieb, schuf Richard Fuchs ein „stimmungsvolles Ensemble, das für die historische Verwurzelung und Selbstverständlichkeit jüdischen Lebens in Deutschland steht“. In den Archiven hat Schumann genaue Angaben zur Ausführung der Synagoge gefunden. Darin fanden sich nicht nur exakten Pläne des Baukörpers, sondern klare Anweisungen für den Einsatz von Materialien und Farben. Detailliert war der Tora-Schrein mit seiner Umrahmung aus Majolika-Fliesen beschrieben, bis hin zu zwei Vorhängen, einer in Rot und einer in weiß für hohe Festtage.

Der Tag der Einweihung der Gernsbacher Synagoge 1928. Quelle: Stadtarchiv Gernsbach

Sonntag, 15. Juli 1928 war ein bedeutender Tag im Leben von Richard Fuchs: Die von ihm entworfene und erbaute Synagoge in Gernsbach wurde ihrer Bestimmung übergeben, und der Gemeindevorsteher der jüdischen Gemeinde Hermann Nachmann erhielt aus seiner Hand die Schlüssel des neuen Gebäudes.

In der Zeitung wurde damals die Leistung des Architekten gelobt: „Architektonische Schönheit vereinte sich mit vollständiger Zweckmäßigkeit“. Die jüdische Gemeinde bewunderte den Neubau in ihrer Chronik im Jahr 1928: „Der Bau kann nach seiner Vollendung als sehr gut gelungen und schön bezeichnet werden.“ Hermann Nachmann schrieb: „Es ist eine Zierde des lieblichen Murgtalstädtchens Gernsbach, dieses schöne Gotteshaus“. Dementsprechend groß war der Zustrom der Gäste und der Gernsbacher, die sich die Einweihung dieses Gebäudes nicht entgehen lassen wollten. Der Bezirksrabbiner aus Offenburg nahm die Weihe des Gotteshauses vor. Ernst Bernauer, Stadtpfarrer der katholischen Gemeinde, und Lehrer Münz für die evangelische Gemeinde sprachen jeweils Grußworte.

1938 wurde die Synagoge während des Novemberpogroms zerstört: Sie wurde von den Nationalsozialisten bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Heute erinnert nur der „Synagogenweg“, die Fußgänger-Verbindung zwischen Austraße und Blumenweg, und eine Gedenktafel an die einstige Synagoge.

Das Wohnhaus de Weerth wurde von Richard Fuchs entworfen.

Am heutigen Synagogenweg findet sich ein weiteres Gebäude des Architekten Richard Fuchs. 1929 schuf er das Wohnhaus aus Backsteinen für den Zahnarzt Gustav de Weerth.

 

Der Synagogenweg führt entlang des einstigen Anwesens der Gernsbacher Synagoge. Foto: Meier

In seiner erfolgreichen Karriere als Architekt verlor er niemals seine Liebe zur Musik und zum Komponieren. 1932 fand in Karlsruhe einen Konzert- und Liederabend mit seinen Werken statt. Die Zeitung urteilte danach: „Dr. Richard Fuchs ist nicht nur ein Architekt von Rang, er stellte sich für die Außenstehenden in überraschender Weise auch als Komponist von sehr beachtlichen Graden vor.“ Damals ahnte er nicht, dass dies die letzte Aufführung seiner Musik in Deutschland für viele Jahrzehnte war.

Nach dem Siegeszug der Nationalsozialisten wurde das Leben und Arbeiten für den Juden Richard Fuchs immer schwieriger. Den Maßnahmen, die Juden aus Beruf und dem öffentlichen Leben zu verdrängen, fiel auch Richard Fuchs zum Opfer. Bereits 1933 musste er Einschränkungen in seinen Arbeitsmöglichkeiten hinnehmen, ab 1935 wurde er mit einem  Arbeitsverbot belegt, seine Kinder der Schule verwiesen. Nach dem Pogrom am 10. November 1938 wurde er von den Nazis nach Dachau abtransportiert und kam erst im Dezember wieder frei. Danach war ihm bewusst, dass er aus Deutschland mit seiner Familie fliehen musste, dass er als Jude keine Zukunft mehr in seinem Heimatland hatte. Seine Frau Dora setzte alles in Bewegung, damit sie das Land verlassen konnten. Sie verkauften ihr Haus in Karlsruhe, verschifften Möbel, Bücher und Noten in Containern und verließen mit ihren beiden Kindern Deutschland. 

Das Haus von Richard Fuchs in Neuseeland. Foto: Familienarchiv Fuchs

Als Richard Fuchs mit seiner Familie schließlich 1939 in Neuseeland ankam, hatte er Probleme, eine Anstellung in Wellington zu finden. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verschlechterte sich die Stellung von Richard Fuchs. Er wurde als Deutscher angesehen, er galt als „Enemy Alien“.

Richard Fuchs in seinem Gemüsegarten in Neuseeland. Foto: Familienarchiv Fuchs

Eine Zeitlang hatte er gehofft, dass sein Stück „Vom jüdischen Schicksal“ aufgeführt wird. Der neuseeländische Dichter Alan Mulgan (1881-1962) hatte den deutschen Text des Chor-Werkes ins Englische übersetzt. Aber leider misslangen die Versuche. Letztlich fand erst 2015, fast 70 Jahre nach seinem Tod, die Premiere seines Werkes „Vom jüdischen Schicksalin Neuseeland statt.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erhielt er die neuseeländische Staatsbürgerschaft, auf die er sehr stolz war. Doch in den letzten 20 Monaten seines Lebens komponierte er nicht mehr. Seine Tochter konnte in ihren Erinnerungen nur  Vermutungen über die Gründe anstellen: Ob es die Enttäuschung über die geringe Aufmerksamkeit war, die in Neuseeland seinen Kompositionen geschenkt wurde, oder die Trauer, als er von dem Tod seiner Schwester erfuhr, die 1943 in Auschwitz ermordet worden war.

Richard Fuchs starb nach kurzer Krankheit im September 1947. Seine Asche wurde in den Bergen Neuseelands beigesetzt.

Nach seinem Tod wurde einige Anläufe unternommen, seinem Werk gerecht zu werden. So wurde seine Komposition „New Zealand Christmas Carol“ 1954 beim Besuch der englischen Königin Elisabeth  von einem Kinderchor vorgetragen und gehört seither zu den am meisten verbreiteten Werken des Komponisten.

Aufmerksamkeit errang 2008 der Dokumentarfilm von Danny Mulheron, seinem in Neuseeland lebenden Enkel, der bei der Aufarbeitung des Nachlasses seines Großvaters viele erstaunliche Entdeckungen machte. Der Film „The Third Richard gibt einen Überblick über das Leben und Werk des Künstlers, aufgenommen an Originalschauplätzen. Darin kommt auch Gernsbach vor, mit historischen Abbildungen der Synagoge. Den Titel lehnte der Enkel an einen Ausspruch des Vaters von Richard Fuchs an, der bereits bei der Geburt  seines Sohnes ihn in der Reihe von Richard Wagner und Richard Strauss als „dritten Richard“ sah.

Richard Fuchs‘ Schicksal war es, den Holocaust überlebt zu haben, aber in Vergessenheit zu versinken. „In Deutschland war er der Feind, da er Jude war, in Neuseeland weil er Deutscher war“, schildert der Enkel das freudlose Leben von Richard Fuchs im Exil.

In den letzten Jahren wurden einige Kompositionen von Richard Fuchs in Neuseeland wie in seiner Heimatstadt Karlsruhe aufgeführt. Erst kürzlich gab es ein Konzert mit seinen Werken in Jerusalem. Somit erfährt er eine späte Anerkennung seines künstlerischen Schaffens.

Regina Meier

 

Quellen:

– Dr. Ulrich Schumann: Begleittext zur Ausstellung „Am Sabbat auf dem Weg zur Synagoge – Die Gernsbacher Synagoge 1928-1938; 2018

– Youtube-Film „The Third Richard“ von Danny Mulheron: https://youtu.be/HjhqfiWjr5k

– Webseite: https://richardfuchs.nz

– Generallandesarchiv, Akten 371 Zugang 1981-42, 226

Der Artikel erschien im Gernsbacher Bote 3/2022, Seite 9-11

Zweite Stolperstein-Verlegung in Gernsbach

Eindrucksvolle Gedenkfeier für Euthanasie-Opfer

Vorbereitung für die Verlegung des Stolpersteins in der Storrentorstraße.

Das Scharren der Kieselsteine war noch zu hören, als die Musik „Ghetto“ bereits erklang. Bei der Verlegung der Stolpersteine in der Altstadt von Gernsbach hatte der Künstler Gunter Demnig bereits mit dem Freilegen der Vertiefung für den Stolperstein begonnen, als noch die Musik für die Umrahmung der Gedenkfeier spielte.

Anfang März fand die zweite Verlegung von Stolpersteinen in Gernsbach statt. Dieses Mal wurde Opfern der Euthanasie-Programmen der Nazis gedacht, die aufgrund ihrer geistigen Konstitution sterben mussten. Nun erinnern vier Stolpersteine an Luise Geiger in der Storrentorstraße 3, an Ludwig Schneiderhan in der Hauptstraße 45, und an die Brüder Albert Gebhard und Karl Gebhard in der Schlossstraße 8. Sie wurden 1940/41 im Rahmen der sogenannten T4-Aktion ermordet. Dieses Programm wurde nach dem Ort der Planungszentrale der Morde an Menschen mit Behinderungen und mit psychischen Krankheiten, Tiergartenstraße 4 in Berlin, benannt.

Gunter Demnig (ganz links) verfolgt die Gedenkfeier am Metzgerplatz, bevor er zur Verlegung des nächsten Stolpersteins geht.

Gerold Stefan, Lehrer an der Musikschule Gernsbach, hatte die passenden Musikstücke für die Feier ausgesucht. Er spielte mit seiner Klarinette das Adagio von Friedrich Demnitz, „The Blessing Nigun“ von Jerry Sperling, „Jenseits der Stille“ von Niki Reiser und das Stück „Ghetto“.

Eindringlich verhallten die Melodien auf dem weiten Metzgerplatz. Dort hatten sich zahlreiche Bürgerinnen und Bürger Gernsbachs versammelt, um den Opfer der Euthanasie-Programme der Nationalsozialisten zu gedenken.

Michael Chemelli, Bürgermeister-Stellvertreter, fand die passenden Worte, um an das unfassbare Geschehen um die Opfer der NS-Euthanasieprogramme zu erinnern. Er betonte in seiner Einführung, dass es heute die Pflicht von uns allen ist, daran zu arbeiten, dass sich ein solches Geschehen niemals wiederholt. Besonderen Dank sprach er an Stadtarchivar Wolfgang Froese aus, dessen Recherchen es zu verdanken ist, dass an die vier getöteten Gernsbacher erinnert werden kann. Bislang war wenig über die Ermordung von behinderten Menschen aus Gernsbach bekannt, daher bedurfte es grundlegender Archivarbeit, die Details und Hintergründe über den Abtransport zu finden.

Bereits zum zweiten Mal verlegt Gunter Demnig Stolpersteine in Gernsbach.

„Ich bin Ludwig Schneiderhan“, begann die Darstellung der Einzelschicksale der vier Opfer durch Schülerinnen und Schüler der Realschule Gernsbach. Unter der Leitung ihrer Lehrerinnen Elvira Schulz (Geschichte) und Johanna Wilhelm-Lang (ev. Religion) hatten sie sich in Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv auf diese Gedenkfeier vorbereitet. Lea Clausen, Sara Oertel, Elias Schmidt und Alica Herzog hatten die Texte, mit denen sie das Schicksal der jeweiligen Person vorstellten, in der „Ich-Form“ geschrieben und vermittelten somit eindringlich, dass sie sich intensiv auf diese Gedenkfeier vorbereitet hatten. Die Anwesenden waren betroffen von den Texten, weil sie auch in beklemmender Weise deutlich machten, wie sehr die Menschenwürde im Dritten Reich mit Füßen getreten worden war. Mit der Beteiligung der Schülerinnen und Schüler wurde ein Kern-Ziel des Gemeinderats-Beschlusses zu den Stolpersteinen umgesetzt. 2019 hatte das Gremium einstimmig beschlossen, zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus sich der Stolperstein-Aktion anzuschließen und insbesondere die örtlichen Schulen zur Pflege und kontinuierlichen Erinnerungsarbeit einzubinden.

Rita und Hans-Joachim Scholz, Pfarrer i.R. der evangelischen Gemeinde, sprachen in Anwesenheit von Dekan Josef Rösch ein Gebet. 

Teilnehmer der Gedenkfeier legten Blumen nieder an den Stolpersteinen.

Gemeinsam mit Mitarbeitern vom Bauhof zog der Künstler Gunter Demnig vom Metzgerplatz in die Schlossstraße 8 weiter, wo die beiden Stolpersteine für die Brüder Albert und Karl Gebhard verlegt wurden. Anwohner legten später Blumen an den einzelnen Stolpersteinen nieder.

Regina Meier

Dieser Beitrag erschien im “Gernsbacher Boten” 1/2022 im Casimir Katz Verlag am 6. April 2022

 

Einer der ältesten Buslinien Baden-Württembergs

Mit dem Bus nach Baden-Baden

Bushaltestelle Hofstätte Gernsbach um 1910 – Foto: Stadtarchiv Gernsbach

Mit den neuen Fahrplänen zur Buslinie Gernsbach – Baden-Baden beginnt eine neue Ära im öffentlichen Nahverkehr zwischen den beiden Städten. Eigentlich hätte bereits Mitte Dezember die weitreichende Umstellung kommen sollen, doch aufgrund der Sperrungen in Loffenau wegen der Fahrbahnerneuerung treten die Änderungen erst Ende Februar 2022 in Kraft.

Hintergrund ist eine Neuordnung des Bus-Liniennetzes im vorderen Murgtal. Zukünftig wird es eine Linie X44 geben, die die Strecke Bad Herrenalb – Loffenau – Gernsbach – Selbach – Baden-Baden – Varnhalt – Steinbach – Bühl bedient und im täglichen Stundentakt von 5 Uhr am Morgen (Samstag ab 6 Uhr und Sonntag ab 7 Uhr) bis 23 Uhr verkehrt. Für den Busverkehr von Gernsbach nach Baden-Baden wird damit nach den zahlreichen Veränderungen  im Laufe der Geschichte eine neues Kapitel eröffnet. 

Eine alte Aufnahme zeigt ein Stopp bei der Fahrt nach Baden-Baden. Foto: Sadtarchiv Gernsbach

Blickt man zurück in die Vergangenheit, so kann man auf über 116 Jahre regelmäßigen Busverkehr zwischen Gernsbach und Baden-Baden blicken. Damit gehört die Busverbindung nach Baden-Baden zu den ältesten Buslinien Baden-Württembergs. Bereits 1905 hatte sich eine private „Automobilverkehr Gernsbach GmbH“ gebildet, mit dem Ziel, Kurgäste von Gernsbach nach Baden-Baden zu fahren. Es wurde eine Automobilverkehr Gernsbach GmbH gegründet. Zu dem Aufsichtsrat  gehörten Karl Max Clemm als 1. Vorsitzender, Bürgermeister Oskar Jung als Stellvertreter, außerdem Kaufmann Heinrich Popp, Bankier Gustav Dreyfuß und Hotelier Carl Brude. Zum Geschäftsführer wurde Friedrich Schmelzle gewählt. 

Am 11. Juni 1905 war es soweit: der neu gelieferte  Wagen der Süddeutschen Automobilfabrik Gaggenau mit zehn Sitzplätzen fuhr erstmals von der Haltestelle Hofstätte aus nach Baden-Baden. Laut des ersten Fahrplans konnte man zu fünf Uhrzeiten zwischen 7.35 Uhr und 19.40 Uhr nach Baden-Baden fahren, außerdem mittwochs sowie an Sonn- und Feiertagen noch um 23 Uhr. Die Gäste kamen zahlreich. Man forderte sogar Platzkarten und wünschte sich einen Schaffner, der für Ordnung sorgen sollte. Allerdings legte die Verbindung über die Wintermonate eine Pause ein.

Anzeige im „Murgtäler – Gernsbacher Bote“ von 1905 über die Eröffnung der Buslinie nach Baden-Baden. Foto: Kreisarchiv Rastatt

Bereits im September 1905 wurden die Marke von 1000-Fahrten geknackt. In einem Artikel im „Murgtäler – Gernsbacher Boten“ vom 19. September 1905 ist zu lesen: „Die 1000. Fahrt hat am letzten Sonntag das Automobil Gernsbach – Baden-Baden über den Berg gemacht. Die gemäßigte Fahrt dieses Wagens hat wohl allgemein Anerkennung gefunden, und es ist deshalb auch bemerkenswert, daß sämtliche  Fahrten, die das Auto unternahm, ohne jeden Unfall geschehen konnten. Der äußerst umsichtige Chauffeur vermied auf das peinlichste alles, was für Nicht-Autler unangenehm ist. Insbesondere ist die Überwindung der Töff-Töff-Krankheit anzuerkennen, von welcher die meistern Schnauferl-Menschen befallen werden, sobald sie das Vehikel besteigen.“  Weitere Ausführungen, wie sich diese  „Töff-Töff-Krankheit“ bemerkbar machte, fehlen in dem Zeitungsartikel.

Am Verkehrspavillon an der Stadtbrücke startete so manche Ausflugsfahrt mit dem Bus. Hier der „Ebersteiner“ bei einer Sonderfahrt zum Mummelsee. Foto: Weiser

Der „Betrieb von Fahrten mittels Motorwagen zwecks Beförderung von Personen und Gepäck“, wie die Gesellschaft ihren Geschäftsgegenstand ins Handelsregister eingetragen ließ, dehnte ihre Betätigung bald auch auf andere Routen aus, so auch Richtung Bad Wildbad und nach Freudenstadt. Außerdem wurden auch Sonderfahrten veranstaltet, auch nach Ötigheim zu den Volksschauspielen oder nach Straßburg. Die Linie florierte und die Gesellschaft konnte sogar eine Dividende auszahlen. Allerdings bedeutete der Erste Weltkrieg auch hier einen radikalen Einschnitt in die Entwicklung.  Nach dem Krieg begann die Automobilverkehr Gernsbach GmbH, in bescheidenem Maße ihre Verbindungen aufzunehmen, doch die Zeit der privaten Gesellschaften, die einzelne Linien unterhielten, war vorbei. 1926 übernahm die Reichspost die Buslinie nach Baden-Baden und wurde in eine Kraftpostlinie überführt. Bis 1983 verkehrte die Linie als Postbuslinie und danach als Bahnbuslinie. Die Busverbindungen von Gernsbach nach Schloss Eberstein wurden noch lange Jahre aufrechterhalten. Bis Mitte der 1970er Jahre gab es einzelne Fahrten über die enge, kurvenreiche Straße zum Schloss Eberstein.1989 wechselte der Betreiber durch Umstrukturierungen bei der Bundesbahn von “Bahnbus Nordschwarzwald-Südpfalz” zu “Regionalbusverkehr Südwest – Südwestbus”.

Um 1950 trafen sich am Bahnhof Gernsbach die Murgtal-Busse (vorne) und die Kraftpostlinie (hinteres Haubenfahrzeug) nach Baden-Baden. Foto Stadtarchiv Gernsbach

Eine völlige Veränderung der Fahrpläne und -routen trat 2002 in Kraft. Zur Eröffnung der Stadtbahn im Murgtal wurde der Fahrplan im Juni 2002 komplett neu gestaltet. Danach wurde ein Stundentakt (mit einem Halbstundentakt in der Hauptverkehrszeit) eingeführt. Gleichzeitig wurden die Fahrten über Lichtental und dem Müllenbild mit Halt an der Stadthalle eingestellt. Dabei ist zu ergänzen, dass es zuvor nur noch eine Fahrt je Richtung an Samstag und Sonntag gab. Gleichzeitig wurde auch die  Haltestelle „Gernsbach Schoeller & Hoesch“ gestrichen, denn die gesamte Bahnbuslinie parallel zur Murgtalbahn wurde eingestellt. Viele aus dem hinteren Murgtal erinnern sich gerne an diese einstige Busverbindung. Denn die Buslinie lief länger als die Zugverbindung, so dass zum Beispiel nach einem Kinobesuch in Gernsbach immer noch eine Heimfahrt murgtalaufwärts mit dem – im Volksmund genannten – „Lumpensammler“ möglich war.

2006 wurde die Haltestelle Hofstätte letztmals angefahren, die Bleichhexen griffen dies in ihrem Fasentmotto plakativ auf. Foto: Meier

Die Kürzungen der Bus-Haltestellen im Stadtgebiet gingen weiter: zu Ende 2002 entfiel die Haltestelle “Gernsbach Storchenturm”. Letztlich wurde auch die Haltestelle “Gernsbach Hofstätte” gestrichen. Sie wurde Ende Mai 2006 zum letzten Mal angefahren. Grund waren die beengten Verkehrsverhältnisse in der Gernsbacher Altstadt. Allerdings wollten nicht alle Gernsbacher dies unwidersprochen hinnehmen: so gestalteten die Bleichhexen ihr Fasentmotto in 2006 und boten mit ihrem „Hexenblitz“ eine rasante Ersatzfahrt an.  

Wenn nun in der Neuregelung der Busverbindungen im vorderen Murgtal der neue Busfahrplan im kommenden Jahr eingeführt wird, beginnt damit auch ein neues Kapitel der Verbindung Gernsbach – Baden-Baden. Und neue Fahrzeuge wird es ebenfalls geben: Die eingesetzten Fahrzeuge im Landesdesign „bwegt“ verfügen auch über  WLAN und USB-Steckdosen. Man darf auf die neuen Entwicklungen gespannt sein.  

Regina Meier

Dieser Beitrag erscheint im “Gernsbacher Boten” 4/2021 im Casimir Katz Verlag am 25. November 2021

Die gute Stube Gernsbachs

Rund um die Hofstätte

Die Nachricht über den Umbau der Brückenmühle zu Wohn- und Geschäftszwecken in absehbarer Zeit war eine Sommer-Überraschung. Die Brückenmühle ist nicht nur ein stadtbildprägendes Gebäude, vielmehr bestimmt sie auch den Zugang zu der historischen Hofstätte. Mit den baulichen Veränderungen an der Brückenmühle wird auch die Hofstätte ein neues Entree erhalten. Ein neuer Blick auf die gute Stube Gernsbachs wird freigeben.

Bis in die 1960 Jahre war die Mühle aktiv, rund 50 Mitarbeiter zählte damals der Betrieb. Doch dann wurde der Betrieb eingestellt und der Lebensmittelhändler Pfannkuch zog ein.

Bei der Brückenmühle gab es einst ein „Fluss- und Schwimmbad unter der Murg“. Für 10 Pfennig konnte man eine Abendkarte zum Schwimmen erwerben. Damals gb es noch getrennte Badezeiten für Männer und Frauen: Die „Damenzeiten“ waren „von 8 bis 10 ½ Uhr morgens“ und von „1 bis 3 ½ Uhr nachmittags“ – wie man heute noch auf einem Plakat in der Restauration Brüderlin nachlesen kann.

Die Sanierung des Brückenmühle war einst Anlass für das erste Altstadtfest im September 1975.

1997 schloss die Filiale der Fima Pfannkuch, seither steht das Erdgeschoss leer. Lediglich anlässlich des Jubiläums 150-Jahre-badische Revolution wurde der Raum für eine Ausstellung zur Revolutionsgeschichte in Gernsbach genutzt. Nach langen Jahren der Suche nach einer Nutzung der Brückenmühle ist nun der Durchbruch gelungen und eine zukunftsversprechende Lösung gefunden. Für die Hofstätte steht damit ein attraktiver Zugang in Aussicht.

Auch wenn drei Fußwege (August-Müller-Steg, Kirchenstaffeln und der Fußweg entlang des Gebäudes von Hofstätte 1) sowie vier Straßen zur Hofstätte führen (Mühlgraben, Hauptstraße, Waldbachstraße und Schlossstraße), so geschlossen wirkt das Ensemble. Die Häuser entstammen unterschiedlichen Jahrhunderten und weisen ein vielfältiges Erscheinungsbild auf.

Direkt an den Mühlgraben schließt sich wohl das modernste Gebäude des Platzes an, das erst 1960 sein heutiges Aussehen erhalten hat. Heute beherbergt das Gebäude das „My Wok Bistro – Spezialitäten aus Asien, älteren Gernsbachern ist es noch als  Marienapotheke der Familie Riether bekannt. Zuvor hat die Metzgerei Anselm hier ihre Metzgerei betrieben. Ein paar Stufen führten damals noch hinunter zu dem Eingang, der früher unter dem heutigen Niveau der Hofstätte lag.

Das Asia-Restaurant bedient seine Gäste heute auch in einem Außenbereich, wie auch das danebenliegende Café Felix und das Gasthaus Hirsch von gegenüber. Seit der Umgestaltung der Hofstätte im Jahr 1992, bei der nicht nur der Pflasterbelag, sondern auch breiteren Raum für die Fußgänger geschaffen wurde, gibt es seither eine Möglichkeit für diese Bewirtung.

Dieser Raum wird heute für die Außengastronomie rege genutzt. Entfallen ist allerdings die einstige Bushaltestelle in diesem Bereich, an der über viele Jahre der Busverkehr Richtung Baden-Baden Station machte. Nicht zuletzt wegen der Fahrplananpassungen an die neue Stadtbahn durchs Murgtal wurde 2002 die Verbindung über das Müllenbild nach Baden-Baden ganz gestrichen. Da die großen Busse immer wieder Probleme hatten, ihren Weg auf der schmalen Straßenführung des Stadtbuckels zu finden, . Daher wurdel die Haltestelle „Hofstätte“ aufgehoben und wurde am  28. Mai 2006 letztmals angefahren.

Die Busverbindung nach Baden-Baden hatte lange Tradition: bereits 1905 hatte sich eine private „Automobilverkehr Gernsbach GmbH“ gebildet, mit dem Ziel, Kurgäste von Gernsbach nach Baden-Baden zu fahren – von der Haltestelle Hofstätte aus. Somit gehört die Verbindung von Gernsbach nach Baden-Baden zu einer der ältesten Buslinien Deutschlands.

Direkt daneben findet sich das traditionsreiche Gebäude, Hauptstraße 6. Heute  befinden sich im Erdgeschoss das beliebte Café Felix, im westlichen Schaufenster präsentiert der „Weinschmecker“ seine Produkte. Lange Jahre befand sich hier ein gut frequentierter Gemüseladen mit reichhaltiger Auswahl und daneben ein Orthopädie-Geschäft.

Schaut man weiter in die Vergangenheit, stößt man auf die reiche Geschichte der Gastronomie in diesem Haus. Bereits 1511 ist hier eine Schildgerechtigkeit überliefert, bis 1930 war das Gasthaus zur Krone auch noch aktiv. Um 1900 galt als eine der ersten Adressen in Gernsbach. Aus einer Rechnung aus dem Jahr 1894 zeigt sich die Attraktivität des einstigen Gastbetriebes: eine Gesellschaft die an diesem Juli-Abend 44 Flaschen „Affenthaler“ und 176 Flaschen Klingelberger mit immerhin 22 Sodawasser und 20 Cigarren genoss, hat hier wohl einen vergnüglichen Abend verbracht. Älteren Gernsbachern ist das Haus wohl noch als „Zigarren- Zigaretten- und Tabakspezialgeschäft“ bekannt, das auch „Schokoladen und Konfitüren“ feilbot. Untrennbar ist dieses mit dem Namen Walter Lutz verbunden, der das Geschäft in den mittleren Teil des Gebäudes, in den ehemaligen Gastraum der Krone, verlegte und dieses Spezialitätengeschäft mit seiner eigenen Ausstrahlung bis 1996 betrieb.   

Am Aufgang zur Altstadt findet sich ein attraktives Fachwerkhaus. Hier in der Hofstätte 8 waren im Laufe der Jahrhunderte viele Handwerker beheimatet, wie es die eingeschnitzten Zeichen in dem nordwestlichen Eckbalken belegen. Der unterste Eintrag ist jüngeren Datums, nämlich nach 1951 ergänzt worden, nachdem der Verputz entfernt wurde. Die Familie, die mir viel Engagement und Tatkraft in das Gebäude investiert, führt nun in fünfter Generation das Friseurgeschäft. Im Laufe der Jahrzehnte haben sie sich immer wieder dem Wandel angepasst. Einst „Salon Herzog“ ist hier Anita Löwenthal mit ihrem Team aktiv. Schon im Einwohnermeldebuch von 1903 inseriert das Friseurgeschäft: “Lager in Parfümerie und Toilettenartikel, Haararbeiten, Massage, elektrische Hühneraugenoperation“. Für die damalige Zeit war gerade diese elektrische Behandlungsmethode ein Ausdruck des Fortschritts des 20. Jahrhunderts, gab es doch erst seit wenigen Jahren elektrische Stromversorgung in Gernsbach. 

Die wohl wechselvollste Geschichte hat das Haus Hofstätte 7 hinter sich. Der Gewölbekeller, das Erdgeschoss und das erste Obergeschoss wurden vermutlich bereits 1432 errichtet und 1712 wahrscheinlich erneuert und aufgestockt. Im 19. Jahrhundert bestimmte die Familie Wallraff das Leben in dem Haus. Sie betrieb dort das „Gasthaus zum Laub“. Georg Friedrich Abel, Bürgermeister von Gernsbach von 1862-1900, hatte das Gastahaus nach seiner Rückehr aus Amerika, wohin er nach den Unruhen von 1848 ausgewandert war, mit seiner Frau übernommen. Nachfolgerin wurde Enkeltochter Erna Abel, die das Gasthaus bis zum Ende des Zweiten Weltkries führte. Nach Ende des Krieges eröffnete Hermann Walz an dieser Stelle seine Bäckerei, Restauration und Café und servierte im Sommer im Freien am Hofstätte-Brunnen Kaffee und Kuchen. Paul Böckeler betrieb auf diesem historischen Boden von 1962 bis 1981 eine Konditorei. In den achtziger Jahren war neben einem Immobilien-Geschäft hier die Filiale des Badischen Tagblatts untergebracht.

1993 wurde das Haus unter der Leitung von Familie Vierling mit einem reichhaltigen Angebot von Haushaltswaren, Porzellan und Geschenkartikeln zu neuem Leben erweckt. Eine grundlegende Renovierung ging dem voraus, bei dem auch der altstadtgerechte Vorbau dem Fachwerkhaus realisiert wurde. 2008 knüpfte “Hofstätte Interieur und Design“ mit neuer Leitung an die Traditionen an. Nach der Schließung  des Geschäfts 2019 ist es heute als Beauty Salon Gern Style  (siehe Artikel S. 5) wieder mit Leben gefüllt.

Die „Traube“ gehört postalisch zur Waldbachstraße, bildet aber zwischen Schlossstraße und Kirchenstaffel den südlichen Eckpfeiler der Hofstätte. Um das Jahr 1900 ebenfalls als „altrenommiertes Gasthaus“ und bot es „reingehaltene, sebstgezogene Weiß- und Rotweine und Bairisch Bier“ an, außerdem stellte es „Zimmer von Mk 3,50“ zur Verfügung.  Nach langen Jahren der Bewirtung durch Familie Seyfried und danach von Familie Weinhandl gilt es heute als Musiklokal und Bar. 

Ein Rundgang über die Hofstätte kann nicht ohne Begutachtung des Hofstätte-Brunnens erfolgen, dem Kondominatsbrunnen.  Bereits 1511 ist dieses steinerne Zeugnis nachweisbar und hält die Mittlerfunktion des Platzes zwischen den einzelnen Teilen der Stadt wider. Er setzt der gemeinsamen Verwaltung der Stadt von Badenern und Ebersteinern ein markantes Denkmal.

Eine reiche Vergangenheit spiegelt sich in dem Anwesen Hofstätte 3-5 wider. Lange Jahre befand sich hier das Modehaus Motex. Über Generationen war hier allerdings ein Hotelbetrieb angesiedelt, der das Gebäude geprägt hat. Das ehemaligen Hotel Sternen galt über Jahrzehnte als führendes Hotel in Gernsbach. In letzten Jahrhundert hat die Familie Brude die Geschicke „Zum Goldenen Stern“ geleitet.

Noch heute ist die Gaststätte zum Hirsch aktiv und wird heute von Familie Cannistraro bewirtschaftet. Mit der Schildgerechtigkeit von 1530 gehört es zu den bedeutenden Sehenswürdigkeiten der Stadt. Die historischen bleiverglasten Butzenscheiben zeigen einzelne Murgtalsagen.  

Anfang der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts hatte nicht viel gefehlt, und die historische Gaststätte  wäre wegen des „Hirschecks“ verschwunden. Im Streit der Meinungen trug letztlich der damalige Inhaber, der „Hirsch“ blieb stehen und wurde von seinem abbröckelnden Verputz befreit. Man legte das Riegelwerk frei und fand dabei die Zeichen und Zahlen im Eckständer. Als Zunftherberge der Bäcker trat der Hirsch erstmals in Erscheinung, das war im 16. Jahrhundert. Anno 1689 brannte der Hirsch“ samt Umgebung nieder, doch schon 1694 war es in den heutigen Form wieder errichtet. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde es wieder von Familie Brude zum Gasthaus betrieben. 1933 hob das Hotel und Pension zum „Goldenen  Stern und Hirsch“  in einer Anzeige hervor: „feinbürgerliches Haus an der Murgbrücke. Altdeutsches Restaurant mit den Murgtalsagen“.

Die Hofstätte 1 beherbergt heute das Tui-Reisebüro, zuvor war darin die Deutsche Bank ansässig und hatte die lange Tradition des Hauses als Bank fortgeführt. Bereits 1903 hatte hier Jakob Dreyfuß ein Bank- und Wechselgeschäft. 1925 wechselte das Geschäft zur Rheinischen Creditbank, Hauptsitz Mannheim, Niederlassung Gernsbach. 

Seit Beginn des 16. Jahrhunderts wird die „Hoffstatt“ wie die Bleich, Igelbach, Gass, Hof und Walbach als „vorstette“ bezeichnet, wie Rainer Hennl in seiner Buch „Gernsbach“ seine Quellenarbeit herausgearbeitet hat, und umfasst bereits 14 Häuser. Aus seinen sozialtopographischen Untersuchungen geht hervor, dass die Hofstätte um 1630 als bestes Wohnquartier galt  – gemessen am Durchschnittswert der Häuser. Auch heute ist die Hofstätte ein attraktiver Platz. Er spiegelt auch die gesellschaftliche und ökonomische Entwicklung der Stadt wider. Es gibt keine Hutmacherin und kein Hotel mehr auf dem Platz, kein Lebensmittel- oder Gemüsegeschäft, keinen Metzger und keine Bank mehr. Doch haben sich Café, Friseur und Gaststätten gehalten oder wurden neu geschaffen und Geschenkartikel gibt’s in Sichtweite – und sorgen dafür, dass die Hostätte die gute Stube Gernsbachs bleibt.

Sicher wird sie sich weiterentwickeln und die Strömungen der Zeit aufnehmen: die Umgestaltung der Brückenmühle setzt sicherlich neue Akzente. 

Regina Meier

Ich möchte Dank sagen, all den Gernsbacherinnen und Gernsbachern, die mir in ihren Erzählungen und Fotos teil haben ließen an der Geschichte ihres Hauses und ihrer Familien auf der Hofstätte. Grundlage für diesen Beitrag bildet ein Artikel aus dem „Gernsbacher Boten“, den ich 1998 geschrieben habe. Seither ist viel passiert, Traditionshäuser sind verschwunden, neues Gewerbe hat sich angesiedelt. Ich konnte gar nicht alle Informationen aufnehmen. Sicher ist, die Geschichte des Platzes wird weitergeschrieben.

 

Dieser Beitrag erschien im “Gernsbacher Boten” 3/2021 im Casimir Katz Verlag am 16. September 2021

Farbiges Glas bringt das Licht von Ostern zum Leuchten

Ende vergangenen Jahres wurde das Buch „Leuchtende Hoffnung“ über die Glasfenster in der St. Jakobskirche Gernsbach veröffentlicht. Seit 1966 befinden sich die Glasfenster von Albert Birkle (1900-1986) in der Gernsbacher St. Jakobskirche. Einerseits sind sie abstrakt gehalten, andererseits definieren sie durch die figürliche Darstellung das jeweilige religiöse Motiv.

Zu dem dreiteigen Zyklus gehören das Osterfenster, das zentrale Pfingstfenster und die Darstellung des himmlischen Jerusalems.

Sie wurden eigens für diesen Chorraum geschaffen und sind ein kunstvoller Ausdruck christlichen Glaubens.  Das beherrschende Motiv des Osterfensters ist die in weißem Glas gefasste Gestalt des auferstandenen Jesus. Zentral in der Mitte leuchtet die weiße Figur.  Kränze aus meist gelben Glas umringen den Kopf und laufen strahlenförmig zu den Rändern. Gold leuchtend durchdringen sie den Hintergrund, der in blau-lila-grauen Tönen gehalten ist. Ein rotes Glas in der Brusthöhe der Figur symbolisiert das durchbohrte Herz des Gekreuzigten. Im linken Bildrand zieht ein Engel vor dem offenen Grab den Blick des Betrachters auf sich. Ein Pendant im rechten Bildrand zeigt den Giftstachel eines Skorpion in abstrakter Form als Zeichen für den Tod und die Angst.

Birkle ist in diesem Fenster eine meisterhafte Verbindung zwischen Licht und Farbe gelungen.  Auch wenn durch dieses Fenster, das nach Norden ausgerichtet ist, kein direktes Sonnenlicht fällt, so ist die Strahlkraft ungebrochen. Das Osterfenster leuchtet – von der Kanzel aus betrachtet – in direkter Linie hinter dem die Kirche beherrschenden Kreuz und verkündet umso kräftiger die Botschaft von der Auferstehung Jesu und den Sieg über den Tod. Leid und Schmerz werden überwunden, die Erlösung und Auferstehung erstrahlen im Licht.

Albert Birkle erhielt den Auftrag für die drei Glasfenster von der St. Jakobsgemeinde und Pfarrer Siegfried Diemer, der von 1957 bis 1972 evangelischer Stadtpfarrer war. Ausschlaggebend für die Wahl auf Albert Birkle war die Verbindung zu Henriette Fischer-Zach, die ihn für diese Aufgabe begeistern konnte. Zuerst fertigte er ein kleineres Fenster an, um die Skeptiker in der Gemeinde von der künstlerischen Aussagekraft eines modernen Glasfensters zu überzeugen. Heute befindet sich dieses als Meditationsfenster in der Sakristei von St. Jakob.  Nach langem Ringen hat die Gemeinde mit finanzieller Unterstützung hiesiger Industrie-Unternehmen letztlich 1965 den Auftrag erteilt.

Zu diesem Zeitpunkt ist Birkle bereits ein renommierter Glaskünstler. Albert Birkle kam am 21. April 1900 in Berlin auf die Welt. „Ich bin wohl in Berlin geboren, aber weil meine Eltern Süddeutsche waren, bin ich während der Ferien immer in Süddeutschland gewesen,“ erzählt er in einem Interview. In den zwanziger Jahren bildet ein erheblicher Teil seiner künstlerischen Tätigkeit die Porträtmalerei. In den dreißiger Jahren beschäftigte sich er sich mit sozialkritischen Themen, aber auch Landschaften und Industriemotive gehörten dazu.  

Die Haltung der Nationalsozialisten gegenüber Birkle blieb lange ambivalent. 1936 wurden noch zwölf seiner Werke auf der Biennale in Venedig gezeigt, doch schon ein Jahr später wurden seine Arbeiten als „entartet“ gebrandmarkt und aus öffentlichen Sammlungen, wie dem Haus der Kunst in München und der Nationalgalerie in Berlin, entfernt.

Sein erstes Glasfenster entstand in Herrenberg 1931-1933. Seine Hinwendung zur Glasmalerei verstärkte sich nach Kriegsende. Im Zuge des Wiederaufbaus erhielt Birkle mehrere Aufträge zur Gestaltung von Kirchenfenstern.

Birkle erzählt von seiner Liebe zur Glasmalerei: „Das Sichversenken in das Leben des Glases lohnt alle handwerklichen Schwierigkeiten, die der Künstler meistern muß. Der Glasmaler schöpft aus dem vollsten Licht und der vollsten Farbe zugleich… Seine Farbe ist die reinste, die denkbar ist, sein Licht das hellste. Wenn das Werk gelungen ist, soll es dazu beitragen, die Gläubigen in die Atmosphäre der Andacht und des Gebets zu führen.“

Im schwäbischen Raum gibt es mehrere Kirchen, die von ihm ausgestaltet wurden. Es wäre eine attraktive Rundreise von Herrenberg und Kuppingen über Balingen nach Geislingen, wenn man sich einige dieser Werke anschauen wollte. Den Höhepunkt seines Schaffens als Glaskünstler erlebte er durch einen Auftrag für die National Cathedral in Washington D.C. 1968-70. Diese Werke gehören sicherlich zu den hervorragenden Schöpfungen Birkles und sorgten für internationale Anerkennung seiner Kunst.

Die neuere Beschäftigung mit den Birkle-Fenstern in Gernsbach hat auch einen Kontakt zu den Nachfahren von Albert Birkle eröffnet, die das Archiv und das Werk des 1986 verstorbenen Künstlers in Salzburg betreuen. So wurde auch der Zugang zu bisher unveröffentlichten Zeichnungen möglich, die als Vorlage für die Gernsbacher Fenster dienten. Sie wurden im Maßstab 1:20 angefertigt und belegen eindrucksvoll die zeichnerische Brillanz Birkles. Sie machen auch deutlich, wie er das Handwerk der Glasmalerei beherrschte, wie vortrefflich er in der Lage war, die Aussagen von einer Zeichnung auf Papier auf den Werkstoff Glas zu übertragen.

In den Fenstern in der Gernsbacher St. Jakobskirche sowie im gesamten künstlerischen Werk Albert Birkles gibt es noch viel zu entdecken. Die Ostertage geben genügend Zeit, sich mit dem Farbenspiel und dem Ausdruck des Osterfensters zu beschäftigen.

Regina Meier

 

Zu den Glasfenstern von Albert Birkle werden Führungen von der Touristinfo Gernsbach angeboten (sofern es die Corona-Verordnungen erlauben): Dr. Irene Schneid-Horn wird am Freitag, 23. April 2021, 17 Uhr, und am Samstag, 3. Juli 2021, 14 Uhr, eine Einführung in die Geschichte und Aussage der Kirchenfenster geben. Treffpunkt: St. Jakobskirche Gernsbach.

Dieser Beitrag erschien im “Gernsbacher Boten” 1/2021 im Casimir Katz Verlag am 23. März 2021

80 Jahre nach der Deportation nach Gurs

Gedenken an jüdische Mitbürger

Vor 80 Jahren endet das jüdische Leben in Gernsbach. Mit dem Abtransport der letzten verbliebenen jüdischen Bürger nach Gurs findet die Ausgrenzung und Auslöschung des jüdischen Lebens durch die Nationalsozialisten in Gernsbach ihren Schlusspunkt. Neun Gernsbacher werden ultimativ von der Gestapo an dem Morgen des 22. Oktober 1940 aufgefordert, ihre Koffer zu packen und sich zum Abtransport an der Stadtbrücke einzufinden.

Auch bei Hermann Nachmann in der Bleichstraße 2 klopfte die Gestapo am 22. Oktober 1940. Foto: Privatbesitz Götz

Die Gestapo klopft an die Tür in der Bleichstraße 2 bei Hermann Nachmann, in der Bleichstraße 4 müssen sich Arthur und Erna Kahn sowie deren Schwester Hilda Dreyfuß und die beiden Töchter Lieselotte und Margarethe fertigmachen, und in der Bleichstraße 14 haben Eugen Lorsch und seinem Sohn Heinz sowie die Hausgehilfin Bertha Marx keine Wahl, dieser Anordnung zu folgen. Die Aktion findet am Morgen des letzten Tages des Laubhüttenfestes, Sukkoth, statt, einer der traditionellen Festtage der Juden, die im Kreis der Familien gefeiert werden. Die Einsatzkommandos können also davon ausgehen, dass sie in allen jüdischen Haushalten die Familienmitglieder antreffen. Innerhalb einer Stunde sollen sie sich reisefertig machen, ins Handgepäck dürfen lediglich Verpflegung für ein paar Tage, eine Wolldecke, Ess- und Trinkgeschirr und pro Person 100 Reichsmark mitgenommen werden. Von Gernsbach werden die sie mit einem Lastwagen nach Rastatt abtransportiert, dort geht es mit dem Zug in das südwestliche Frankreich, nach Gurs, einem Lager am Fuße der Pyrenäen, weiter. Über 6.000 jüdische Bürger aus Baden, Rheinland-Pfalz und dem Saarland werden im Oktober 1940 von den Nationalsozialisten in das Lager Gurs deportiert.

Heute erinnert nur wenig an das einstige Lager in Gurs.

Unvorstellbare Lagerbedingungen
Viele der Deportierten sterben dort oder in weiteren Lagern. Die Baracken verfügen weder über sanitäre Einrichtungen noch Trennwände oder verglaste Fenster. Kälte und Hunger bestimmen den Tagesablauf. Erschütternde Zeugnisse über die Situation in dem Lager sind durch einen Brief des Gernsbachers Arthur Kahn überliefert. Er schreibt an das Bürgermeisteramt und bittet um die Übersendung von Kleidern, Schlafdecken und Handtücher: „Für alles wollen wir gerne aufkommen, wir befinden uns hier mit meinen kleinen Kindern wirklich in der größten Not, so möchte ich nochmals bitten, die Zusendung auf dem bestmöglichsten, schnellsten Wege erfolgen zu lassen, ohne Rücksicht nehmen zu wollen auf die Höhe der Unkosten. Für ihre Mühe danke ich im voraus, auch im Namen meiner Frau, Schwägerin und Kinder.“ Unterschrieben mit „Arthur Kahn, einst: Gernsbach, Bleichstraße 4“.

Camp de Rivesaltes.

Arthur Kahn stirbt bald darauf, noch im Jahr 1941, 54 Jahre alt, in Rivesaltes, seine Frau Erna Kahn und ihre Schwester Hilde sowie Bertha Marx werden aus Gurs in ein Vernichtungslager, wahrscheinlich Auschwitz, transportiert und 1942 umgebracht. Die Kinder Margarethe und Lieselotte Kahn werden von der Hilfsorganisation OSE (Oeuvre de Secours aux Enfants) gerettet. Die OSE betreibt selbst einige Kinderheime in der unbesetzten Zone, sucht Angehörige der Kinder im Ausland und verhilft ihnen zur Ausreise. So gelangen die beiden Kahn-Töchter zu Verwandten in den USA. Der Jugendliche Heinz Lorsch, im Jahr der Deportation 15 Jahre alt, flieht und schließt sich der französischen Resistance an. Sein Vater Eugen Lorsch stirbt 1941 in Gurs.
Heute ist vom ehemaligen Lager Gurs nicht mehr viel übrig. Man betritt das Gelände über ein Mahnmal, das genau an der gegenüberliegenden Seite des damaligen Eingangs liegt und mit der zwei Kilometer langen Lagerstraße verbunden ist. 1963 wurde der Friedhof restauriert. Die 1.073 identischen Gräber stehen um das Mahnmal die für die jüdischen Opfer aus Gurs. Eine Arbeitsgemeinschaft badischer Städte sich für die Pflege des Friedhofs ein.

Wie konnte es soweit kommen?
Mit dem Tag der Machtübernahme Hitlers verändert sich das Zusammenleben der jüdischen Mitbürger und ihren Nachbarn von Grund auf. Seit Generationen gewachsene Gemeinsamkeiten werden zerstört, und die Diskriminierung der jüdischen Bürger wird Schritt für Schritt umgesetzt. Die Juden werden aus dem öffentlichen Leben ausgegrenzt: 1935 wird eine Judenkartei angelegt, die sämtliche Mitbürger jüdischen Glaubens auflistet, verdächtige Personen werden überwacht. „Kauft nicht bei Juden“ ist auch in den Geschäften jüdischer Kaufleute in Bleich- und Igelbachstraße und auf dem Marktplatz zu lesen, die Gewerbe- und Führerscheine müssen abgegeben werden. Den Menschen wird die Existenzgrundlage entzogen.
Anfänglich vollzieht sich die Ausgrenzung der Juden fast schleichend für viele unsichtbar und unbemerkt. Doch immer mehr wird die Unmenschlichkeit offenbar: so müssen nach der Reichspogromnacht alle jüdischen Kinder Gernsbachs die Schule verlassen.

Wertvolle Erinnerungsarbeit

Im Jahre 2000 fand eine eindrucksvolle Matinee anlässlich der Errichtung des ersten Gedenksteins für die Deportation der Gernsbacher Juden statt

Zum Jahrestag der Deportation am 22. Oktober wird seit 20 Jahren wertvolle Erinnerungsarbeit an die letzten jüdischen Mitbürger in Gernsbach praktiziert. Den Anstoß dazu gab der Arbeitskreis Stadtgeschichte Gernsbach. Die damaligen Mitwirkenden gestalteten einen würdigen Rahmen für die Enthüllung des Gedenksteins zur Erinnerung an die jüdischen Bürger Gernsbachs an der Stadtbrücke im Jahr 2000.
Es folgte 2008 ein weiterer Gedenkstein in einem ökumenischen Projekt von den Konfirmanden und Firmanden. Sie gestalteten mit der Steinmetzin einen Stein, dessen Zwilling in Neckarzimmern steht. Er zeigt ein Floß aus Baumstämmen, mit Flößerhaken zusammengehalten, doch links greifen die Haken ins Leere, dort ist der Stamm der jüdischen Mitbürger weggerissen, ein Verlust, der unwiederbringlich ist.

Alljährlich werden am 22. Oktober bei den Gedenksteinen Kerzen entzündet und Rosen niedergeleg.

In den vergangenen Jahren gestalten jeweils verschiedene Gruppen die jeweilige Gedenkfeier unter Leitung des Arbeitskreises Stadtgeschichte mit. Regelmäßige Teilnehmer sind Vertreter der christlichen Kirchen, der politischen Gemeinde und verschiedener gesellschaftlicher Gruppen. Auch von Seiten der Schulen ist jeweils eine Schülergruppe eingebunden, die sich mit Textbeiträgen, aber auch Malereien, verzierten Kerzen oder Szenenspiel einbringt. Besonderes Gewicht erhält diese Gedenkfeier, da seit einigen Jahren Nachfahren der einstigen Deportierten die Feier besuchen. Der Teilnahme von zahlreichen Gernsbachern an der Gedenkfeier zeigt, wie wichtig den Bürgern die Erinnerung an die Opfer der einstigen Verfolgung und Diskriminierung durch die Nationalsozialisten ist.
Auch in diesem Jahr wird wieder zur 80. Wiederkehr der Deportation eine Gedenkfeier am 22. Oktober stattfinden. Aufgrund der aktuellen Corona-Situation wird der Ablauf kurz zuvor in der Tagespresse und den sozialen Netzwerken bekannt gegeben.

Regina Meier

Dieser Beitrag erschien im “Gernsbacher Boten” 3/2020 im Casimir Katz Verlag am 15. September 2020