Jahrzehntelang wurde das Jahr 1923 nicht sonderlich von der Geschichtsforschung beachtet. Die Folgen von 1933 und der Machtergreifung Hitlers beschäftigten die Historiker wesentlich mehr. Doch nun zum 100. Jahrestag rückt das Jahr stärker in den Fokus. Nicht so sehr die goldenen zwanziger Jahre stehen im Mittelpunkt, mehr die Auswirkungen der Hyper-Inflation und die Besetzung des Ruhrgebietes durch die Franzosen, um die dortige Kohle- und Koksproduktion zur Erfüllung der Reparationsverpflichtungen zu sichern. Historiker urteilen mittlerweile, dass 1923 ein Wendepunkt in der europäischen Geschichte war.[1]
Auch für einen Gernsbacher war 1923 ein Schicksalsjahr. Der neunzehnjährige Fritz Schorn verließ Gernsbach und wanderte nach Amerika aus. Diese Entscheidung hat er sich nicht leicht gemacht, doch er wollte raus aus dem kleinen Haus, in dem er mit seinen Eltern und seinen drei Geschwistern lebte. In dem historischen, direkt auf der Stadtmauer Gernsbachs aufgesetzte Haus am Waldbach hatte er seine Kindheit verbracht.
Im Jahr 1923 stieg die Zahl der Auswanderer nach Amerika wieder an.[2] Während des Ersten Weltkrieges war eine Auswanderung nicht möglich, nach 1920 nahm sie stark zu.[3] Während es 1920 noch 19 Personen in Baden waren, die sich nach Amerika aufmachten, zählte man 1921 insgesamt 639 und 1923 sogar 7.154 Menschen. Dies war die höchste Zahl der jährlichen Auswanderer. Da ist deutlich die wirtschaftliche Notlage herauszulesen, unter denen die Badener litten. Insgesamt verließen zwischen 1921 und 1933 rund 42.000 Badener das Land. Fritz Schorn aus Gernsbach war also einer von vielen, die sich aus den schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen aufmachten, um in Amerika bessere Verdienstmöglichkeiten zu finden.
Zu Beginn der zwanziger Jahre herrschte eine beispiellose Inflation und erschwerte die Lebensbedingungen in Deutschland. Die Reparationszahlungen, zu denen Deutschland nach dem Ende des Ersten Weltkriegs verpflichtet wurden, heizte die Geldentwertung an. So finden sich im Stadtarchiv Gernsbach Nachweise zu den Preisen der wichtigsten Lebensmittel, die regelmäßig an das Badische Landespreisamt gemeldet werden mussten.[4]
Am 16. Februar 1920 kostete in Gernsbach ein Roggenbrot 74 Pfennig, 1 kg Butter 12 Mark, ein Ei 42 Pfennig. Die schwierigen Verhältnisse werden schon in den Anmerkungen angedeutet: „Die Kartoffelversorgung war ungenügend und die im Schleichhandel dafür bezahlten Preise sehr verschieden.“
Am 23. August 1922 war der Butterpreis bereits bei 480 Mark, ein Ei bei 9,50 Mark, Roggenbrot bei 85 Mark. Und die Preise stiegen unaufhaltsam. Am 20. August 1923 wurde für Roggenbrot 500.000 Mark, für Butter 8 Millionen Mark und für ein Ei 250.000 Mark aufgeführt. Und wenn man erwartet, dass es da keine Steigerung mehr geben könnte, hat weit gefehlt. Bei der Meldung vom 5. November 1923 steht der Butterpreis mit 250 Millionen Mark in der Liste, für Roggenbrot und Eier werden schon gar keine Preise mehr gelistet, da es schon rasante Preisveränderung zwischen dem Vormittags- und Nachmittagspreis gab.
Im November 1923 wurden die Preise in der Statistik nur noch in Billionen angegeben: 1 Roggenbrot 50 Billionen , Butter 6 Billionen, ein Ei 100 Millionen Mark.[5] Eine Dimension, die unsere Vorstellungskraft übersteigt, astronomische Zahlen, unkalkulierbar.
Erst die Währungsreform, die im Oktober 1923 von dem Kabinett Stresemann beschlossen wurde, machte diesem Spuk ein Ende. Mit der Einführung der Rentenmark am 15. November 1923 stabilisierten sich die Verhältnisse, die Inflation war überwunden.[6] Im Januar 1924 bedankt sich das Statistische Landesamt Karlsruhe bei den Gemeinden für die „tatkräftige Unterstützung bei der Beschaffung der Unterlagen“ und teilt mit, dass nun die „Erhebung und Einsendung der Kleinhandelspreise in Wegfall“ kommt. Sicher zur Erleichterung des Bürgermeisteramtes. Die erste Statistik im Januar 1924 verzeichnet daher wieder „vernünftige“ Preise. Ein Roggenbrot kostet 33 Pfennig, Butter 4 Mark, ein Ei 22 Pfennig. [7]
In den Jahren der Hyperinflation konnte auch die Ausgabe der Zahlungsmittel nicht Schritt halten. Seit 1920 wurde Notgeld gedruckt, 1923 liefen die Druckmaschinen für Banknoten auf Hochtouren. Die Reichsbank konnte den Bedarf an Papiergeld nicht mehr decken, Münzen waren schon längst verschwunden. Nun gaben Städte, Firmen und Geldinstitute Geldscheine aus. Beim Innenministerium in Karlsruhe hatten die Gemeinden Gaggenau, Gernsbach, Weisenbach und Forbach beantragt, dass sie eigenes Geld ausgeben dürfen, weil die Betriebe keine Löhne und Gehälter mangels Geldscheinen auszahlen konnten . Den „gemeinsamen Druck von 70 Millionen Mark Notgeld“ wurde den Gemeinden per Telegramm genehmigt. Doch schon vier Wochen später waren diese Scheine nur die Hälfte wert.
So kam auch Gernsbach zu individuellen Noten. Bereits im Oktober 1922 wurde von der Stadt Gernsbach neue Scheine ausgegeben, von einer Stückelung von einem Zwanzig-Mark-Schein mit einem Bild von Gernsbach bis zu einem 5.000-Mark-Schein.[8] Im September 1923 folgten ein 10 Millionen-Mark-Schein, sowie 10- und 100-Milliarden-Schein. Dieser Schein ist ein herausragendes Exemplar, bildet er doch den Storchenturm mit einem sinnigen Spruch ab: „Froh steht der Storch auf seinem Turm, wenn’s kalt wird, fliegt er weiter. Oh Mensch vertrau! Nach jedem Sturm wird’s Wetter wieder heiter.“ Alfred Kusche, Professor an der Karlsruher Baugewerbeschule, hatte für Gernsbach schön gestaltete Geldscheine entworfen und versah sie mit sinnigen Sprüchen. Irgendwann sparte man sich die aufwändige Gestaltung, man kam mit den Verzierungen nicht mehr nach.
(Fortsetzung folgt)
Regina Meier
[1] Ruhrbesetzung 1923 – Ein Jahr spricht für sich“, Hrsg. Werner Boschmann, Bottrup 2023, Seite. 198
[2] Willi A. Boelcke, Sozialgeschichte Baden-Württembergs 1800 – 1989, Seite 303
[3] Karl Stiefel, Baden, Band 1, Karlsruhe 1977, Seite 432
[4] Stadtarchiv Gernsbach, Verwaltungssachen, GE Abt. II, Nr. 3315A
[5] Stadtarchiv Gernsbach, Verwaltungssachen, GE Abt. II, Nr. 3315A
[6] Volker Ulrich, Deutschland 1923 – Das Jahr am Abgrund, München 2022, Seite 258
[7] Stadtarchiv Gernsbach, Verwaltungssachen, GE Abt. II, Nr. 3315A
[8] Hans Meyer, Das Papiernotgeld von Baden 1914 – 1924, Berlin 1973, Seite 16f.
Der Artikel erschien im Gernsbacher Bote 2/2023, Seite 6-7