Die siebziger Jahre in Gernsbach

Die Feierlichkeiten zur 800-jährigen Geschichte der Stadt Gernsbach haben eine intensive Beschäftigung mit der lokalen Historie angestoßen. Dabei rücken nicht nur die vergangenen Jahrhunderte in den Mittelpunkt der Betrachtung, vielmehr wird auch die jüngere Vergangenheit zunehmend beachtet.

Ein wichtiges Jahrzehnt für Gernsbach waren die 1970er Jahre. Bislang nicht sonderlich beachtet, haben sie für die Entwicklung Gernsbachs herausragende Bedeutung. In diesen Jahren erhielt Gernsbach seine heutige Struktur. Nicht nur die Gemeindereform sorgte für veränderte Verhältnisse, neue kommunale Bauten veränderten das Gesicht von Gernsbach. Im Bereich Handwerk und Handel sorgten die Strukturänderungen für neue Formen des Kaufens und Verkaufens. Mit dem Jugendzentrum und dem Kommunalen Kino entstanden zwei neue Ausdrucksformen kulturellen Lebens. Bedeutsam war auch das Entstehen der Altstadtfeste, ursprünglich als Bürgerfest initiiert, von dem man nicht erwartete, dass es über 40 Jahre Bestand haben würde. Aber auch die Uranfunde im Waldbachtal hielten die Stadt in Atem. 

Dieser Beitrag kann nicht umfassend die gesamte Entwicklung des Jahrzehnts behandeln, anhand einzelner Ereignisse kann man schlaglichtartig den Puls der Zeit spüren.

Einschneidende Veränderungen in der Verwaltung

Anfang der siebziger wurde die Gemeindegebietsreform umgesetzt. Dieser Verwaltungsakt hatte das Ziel, leistungsfähigere Gemeinden zu schaffen. Durch diese größeren Verwaltungseinheiten erwartete sich die damalige Landesregierung eine effizientere Arbeit in den Gemeinden.

Eingemeindung
Die Eingemeindungen von Staufenberg, Lautenbach, Reichental und Obertsrot-Hilpertsau bestimmten das lokalpolitische Geschehen in den siebziger Jahren.

Im Zuge der dieser Gemeindereform kamen Staufenberg  (1.1.1971), Lautenbach (1.1.1973), Obertsrot-Hilpertsau (1.7.1974) und Reichental (1.1.1975) zu Gernsbach hinzu.

Bereits bei der ersten Eingliederung von Staufenberg gab es vorab viele Abstimmungen. Von den knapp 800 abgegebenen Stimmzetteln stimmten 629 für „Ja“ (79 Prozent). Eine der Forderungen Staufenbergs nach einem beheizten Freischwimmbad im Hahnbachtal wurde der Stadt Gernsbach zurückgegeben und erhitzte noch lange die Gemüter. Die Eingliederung Lautenbachs lief in ruhigeren Bahnen. Letztlich wurde in einem Festakt der ausscheidende Bürgermeister Alois Schiel feierlich verabschiedet. Hilpertsau und Obertsrot fusionierten 1970. Die beiden Gemeinden verbanden schon längst viele Gemeinsamkeiten. Recht zügig wurde das 19 Paragraphen umfassende Schriftstück über den Eingemeindungsvertrag mit Gernsbach erarbeitet und schließlich zum 1. Juli 1974 unterzeichnet. „Ab 1.1.1975 gehört Reichental zur Stadt Gernsbach“, so beginnt die Titelseite des Stadtanzeigers 1975. Damals wurde in der Silvesternacht durch den Bürgermeister Oswald Sieb über die Ortsrufanlage die Neuigkeit verkündet. Er ging in seiner Ansprache auch darauf ein, dass sich die Mehrheit der Reichentäler wohl für eine Eigenständigkeit der Gemeinde entschieden hätte, aber dies verwaltungsrechtlich nicht durchsetzbar war.

Bürgermeister Rolf Wehrle
Bürgermeister Rolf Wehrle (Mitte) mit Wolfgang Dieterle (links) und seiner Frau Irene. Foto: Stadtarchiv Gernsbach

Die Eingemeindungen waren ein wahrer Prüfstein für den neugewählten Bürgermeister Rolf Wehrle. Er hatte 1969 das Amt von dem langjährigen Bürgermeister August Müller übernommen und stand sogleich den Herausforderungen der Gemeindereform gegenüber, eine Aufgabe, bei der nicht nur er Neuland betrat.

Neubauten verändern das Gesicht der Stadt

Hochhaus Baccaratstraße
Der Neubau in der Baccaratstraße gehörte zu den ersten hohen Häusern in Gernsbach. Foto: Stadtarchiv Gernsbach

In Gernsbach wurde in den siebziger Jahren der Trend der Zeit, Hochhäuser in den Zentren und Hochhaussiedlungen an den Stadträndern zu bauen, ebenfalls umgesetzt. Die Entwicklung ging in Richtung autogerechte Stadt. Großbaustellen wurden begonnen, alte Häuser hatten wenig Fürsprecher, die siebziger Jahre waren eher ein Zeitalter des Abrisses.

Einschneidende Veränderungen fanden in der Waldbachstraße statt. Bis in die siebziger Jahre beherrschten eng aneinandergebaute kleine Häuser die schmale Straße. Die traditionelle Heimat von Handwerkern wie Schlosser und Drechsler sowie Händlern gehörte der Vergangenheit an. Die Häuser zeigten Spuren der Zeit, sie waren zum großen Teil sanierungsbedürftig. Nach und nach wurden sie abgerissen, auf den Freiflächen entstanden neue Parkmöglichkeiten für den rasant ansteigenden Individualverkehr. Es gab keine Blumenrabatte oder Baumpflanzungen, was die Straße nicht attraktiv machte. Heute ist die Straße mit seinem freigelegten Lauf des Waldbaches und dem unversperrten Blick auf die Stadtmauer eine Attraktion. Die Umgestaltung der Waldbachstraße kann als Gewinn für die Altstadt verbucht werden.

Alter Bauhof
Der alte Bauhof hinter dem Rathaus. Foto: Stadtarchiv Gernsbach

Einen völligen Wandel erfuhr in den Siebzigern auch der Bereich hinter dem heutigen Gernsbacher Rathaus. Dort war der Bauhof untergebracht. Das Rathaus platzte aus allen Nähten, ein Erweiterungsbau wurde beschlossen. Dazu musste der alte Bauhof abgerissen werden, er zog in ein neues Gebäude in der Nordstadt um.

Feuerwehrhaus
Das alte Feuerwehrhaus hinter der Kelter, heute Bereich Kelterplatz/Salmenplatz.

Auch auf dem nahen Kelterplatz waren die Bagger zu Gange. Die alte Kelter an der Gottlieb-Klumpp-Straße, ein großes städtisches Wohnhaus und das Feuerwehrhaus verschwanden. Lediglich das Anwesen Hofer befand sich nicht in städtischer Hand und trotzte den geplanten Veränderungen. Am 5. Mai 1973 wurde das neue Feuerwehrhaus in der Schwarzwaldstraße eingeweiht. Die Tage des Feuerwehrhauses in der Kernstadt gehörten der Vergangenheit an.

Auf den Wiesen, die einst zu dem Mädchenheim Bethesda gehörten, wurde ein Schulhaus errichtet: 1972/73 nahm die Realschule dort ihren Betrieb auf und wurde 1974 zur selbstständigen Bildungsanstalt erhoben. Federführend für diese Einrichtung waren Heinz Wiggert, Rektor der Volksschule, und Bürgermeister Rolf Wehrle, die ab 1970 alle Hebel in Bewegung gesetzt hatten, um eine Realschule schaffen.

Strukturelle Änderungen in Handel und Handwerk

Der Einzelhandel wandelte sich grundlegend: traditionelle Einkaufsmöglichkeiten wurden durch Selbstbedienungsläden und moderne Warenpräsentation ersetzt.

Bestes Beispiel dafür geben die Gernsbacher Bekleidungsgeschäfte jener Zeit ab: Das Modehaus Olinger wie auch Motex bieten ihre Waren in einer völlig geänderten Präsentation an. An der Hofstätte entsteht eine neue Filale von Motex, die sich auf Herrenbekleidung spezialisierte.

Siegeszug Altstadtfest beginnt

Beim ersten Altstadtfest 1975: Brückenmühle-Besitzer Karl Braun neben Bürgermeister Rolf Wehrle. Foto: Stadtarchiv Gernsbach

Das erste Altstadtfest 1975 zog Tausende von Besuchern in die Stadt, damit hatte keiner gerechnet. Die Straßen waren voller Menschen, die Stände der Vereine und Gruppen waren am Sonntag leergekauft. Vereine,

Gewerbetreibende und Gastronomen sowie Anwohner machten engagiert mit, die Altstadt zu einem Ort der Begegnung und zu einer Festmeile zu machen, bei der bürgerschaftliches Denken fröhlich zelebriert wird. Das Fest, das als einmalige Aktion geplant war, wurde nun jährlich abgehalten.

Bei den ersten Altstadtfesten führten die teilnehmenden Gruppen den Reingewinn der Festbewirtung zugunsten der Renovierung des Alten Rathauses ab. Die grundlegende Sanierung des Alten Rathauses fand in den Jahren 1976 bis 1979 statt – eine weitere kommunale Baustelle in den siebziger Jahren.

Übrigens war es beim 3. Altstadtfest 1977, als in den Kirchen an Hanns-Martin Schleyer gedacht wurde. Er war wenige Tage zuvor entführt worden, sein Schicksal war ungewiss. In der St. Jakobskirche mit Pfarrer Manfred Diegel und im Marienhaus mit Prälat Bruno Wittenauer fanden Gedenken für den entführten Arbeitgeber-Präsidenten statt, der Tage zuvor noch sein Kommen zum Altstadtfest angekündigt hatte.

Ausdruck des Zeitgeistes: Juze Gernsbach

Jugendzentrum
Das Juze in der Waldbachstraße. Foto: Gareus-Kugel

Mit dem Jugendzentrum e.V. wurde in den 1970er Jahren ein Verein geschaffen, der wohl aus dem Zeitgeist heraus entstand und von lokalen Akteuren getragen wurde. Anfänglich mit politischer Motivation ins Leben gerufen, entwickelte sich das selbstverwaltete Jugendzentrum schnell zu einem beliebten Treff der Jugend. Es bot einen Freiraum jenseits der kommerziellen beziehungsweise staatlich oder kirchlich regulierten Angebote. Weltanschauliche Auseinandersetzungen und kontroverse Diskussionen, gepaart mit alternativen Musikangeboten machten den besonderen Reiz des Treffs aus. Von Seiten der Stadtverwaltung wurde ein kleines Haus in der Waldbachstraße zur Verfügung gestellt. Die Ausgestaltung der Räume wurde von den Mitgliedern des Vereins organisiert, alte, ausrangierte Polstermöbel bildeten das Inventar, auch ein Klavier gehörte dazu. Prägnant war die Bemalung der Fassade des alten Gebäudes in Richtung Waldbachstraße.

Nach dem Abriss des Gebäudes fand der Umzug des Juze-Treffs 1977 in die ehemalige Papiermacherschule am Färbertorplatz statt. Auch hier hatte der Verein mit Bürgermeister Rolf Wehrle und Hauptamtsleiter Wolfgang Dieterle gewichtige Fürsprecher für ihr Anliegen, ein eigenverwaltetes Refugium zu haben. Der Verein Juze hatte als Aushängeschild die Open-Air-Konzerte im Kurpark, die eine starke Resonanz erfuhren. 1971 fand das erste Konzert statt, weitere folgten im jährlichen Rhythmus bis in die achtziger Jahre.

Drohender Uranabbau im Waldbachtal

Uran-Stein Waldbachtal
“Das Uran bleibt drin” wurde auf dem Stein im Waldbachtal graviert. Foto: Rolf Thilenius

Die Auswirkungen der weltweiten Ölpreiskrise 1973 bescherte der Bundesrepublik nicht nur autofreie Sonntage, sondern auch eine Suche nach alternativen Energiequellen. Die Kenntnis von Uranvorkommen im Waldbachtal ließ Pläne entstehen, diese wirtschaftlich abzubauen. Gegen dieses Vorhaben machten nicht nur Kritiker der Kernenergie mobil, sondern ließ auch eine Allianz von Naturschützern in Vereinen und Privatpersonen entstehen, die sich dem Abbau des Urans im Waldbachtal entgegensetzten. 1978 fand eine Bürgerversammlung in der Stadthalle statt, bei der über 600 Teilnehmer sich über die Pläne des Wirtschaftsministeriums informierten und ihren Bedenken für den Erhalt der Landschaft und gegenüber dem Sinn des Uranabbaus Luft machten.

Letztlich scheiterte das Unterfangen, weder die zu erwartende Menge noch die Qualität des Urans hatte die ersten Erwartungen erfüllt. Was blieb ist ein Stein im Waldbachtal mit der Aufschrift „Das Uran bleibt drin“, ein Relikt der damaligen Aktivisten, um auf die Probleme des Abbaus aufmerksam zu machen.

Abschied von scheinbar Unverrückbarem

Noch vieles mehr entstand in den siebziger Jahren: angefangen von der Neuordnung der Wasserversorgung bis hin zum Papierzentrum in der Scheffelstraße. Ein eigenes Kapitel wäre den sportlichen Leistungen in den Siebziger zu widmen, wie z.B. im Trampolinspringen. Von scheinbar unverrückbaren Gegebenheiten musste man Abschied nehmen: So machten sich schon Mitte der siebziger Jahre Verwaltung und Krankenhausleitung Sorgen um den Erhalt des Gernsbacher Krankenhauses. Die Dampflokomotiven verschwanden unspektakulär, was in der Rückbetrachtung gar nicht mehr genau datiert werden kann. Da bedarf es schon genaurer Sicht in die Archive, denn das eigene Erinnern täuscht so manches Mal.

Regina Meier

Dieser Beitrag erschien im “Gernsbacher Boten” 3/2019″ im Casimir Katz Verlag am 10. September 2019