Richard Fuchs – vergessen und wiederentdeckt

Richard Fuchs (1887, Karlsruhe -1947 Wellington, Neuseeland)

Vor 75 Jahren verstarb der Architekt und Komponist Richard Fuchs in seinem neuseeländischen Exil. Für Gernsbach hatte er als Architekt der 1928 erbauten neuen Synagoge eine besondere Bedeutung. Da er als Jude in den dreißiger Jahren verfolgt wurde, wählte er 1938 die Auswanderung und emigrierte nach Neuseeland. Allerdings wurden dort seine künstlerischen Werke zu seinen Lebzeiten nicht anerkannt. Sein Schicksal war es, in Deutschland verfolgt worden zu sein, weil er Jude war und in Neuseeland ignoriert zu werden, weil er Deutscher war.

Die vier Brüder Fuchs als Soldaten im Ersten Weltkrieg. Foto: Familienarchiv Fuchs

Richard Fuchs wurde 1887 in Karlsruhe als Sohn einer Holzhändler-Familie geboren. Er wuchs mit seinen drei Brüdern und seiner Schwester in einer wohlhabenden und angesehenen Familie auf. Die jüdische Familie war völlig integriert in die Gesellschaft Karlsruhes. In der Familien-Historie wurde immer weitergegeben, wie seine Großeltern als Zuwanderer aus einfachen Verhältnissen nach Karlsruhe gekommen waren und „sie später stolz waren auf den beschiedenen Beginn der Familie“. Alle vier Söhne der Familie meldeten sich im Ersten Weltkrieg freiwillig als Soldaten.  

Sein musikalisches Talent führte Richard Fuchs zu einem Studium der Musik an der Hochschule in Karlsruhe, dem folgte ein Studium der Architektur in Berlin. 1923 promovierte er an der Technischen Hochschule Karlsruhe. Richard Fuchs heiratete 1920 Dora Stern. Das junge Ehepaar bezog eine stattliche Villa in der Kriegsstraße 120 in Karlsruhe. Für Richard Fuchs waren die zwanziger Jahre eine erfolgreiche Zeit als Architekt. Er entwarf Wohn- und Kaufhäuser, Hotels und Fabriken.

Die Gernsbacher Synagoge, entworfen und gebaut von Richard Fuchs. Quelle.: Generallandesarchiv Karlsruhe

Den einzigen öffentlichen Auftrag erhielt Richard Fuchs 1927 mit dem Bau einer Synagoge für die jüdische Gemeinde in Gernsbach. Bereits 1923 hatte Fuchs auf der Großen Deutschen Kunstausstellung in Karlsruhe einen jüdischen Kultraum geschaffen. Die Gernsbacher Synagoge war für ihn wie für Gernsbach ein herausragendes Bauwerk.

Wie Dr. Ulrich Schumann in den Begleittexten zu der Ausstellung des Arbeitskreises Stadtgeschichte zur Gernsbacher Synagoge 2018 schrieb, schuf Richard Fuchs ein „stimmungsvolles Ensemble, das für die historische Verwurzelung und Selbstverständlichkeit jüdischen Lebens in Deutschland steht“. In den Archiven hat Schumann genaue Angaben zur Ausführung der Synagoge gefunden. Darin fanden sich nicht nur exakten Pläne des Baukörpers, sondern klare Anweisungen für den Einsatz von Materialien und Farben. Detailliert war der Tora-Schrein mit seiner Umrahmung aus Majolika-Fliesen beschrieben, bis hin zu zwei Vorhängen, einer in Rot und einer in weiß für hohe Festtage.

Der Tag der Einweihung der Gernsbacher Synagoge 1928. Quelle: Stadtarchiv Gernsbach

Sonntag, 15. Juli 1928 war ein bedeutender Tag im Leben von Richard Fuchs: Die von ihm entworfene und erbaute Synagoge in Gernsbach wurde ihrer Bestimmung übergeben, und der Gemeindevorsteher der jüdischen Gemeinde Hermann Nachmann erhielt aus seiner Hand die Schlüssel des neuen Gebäudes.

In der Zeitung wurde damals die Leistung des Architekten gelobt: „Architektonische Schönheit vereinte sich mit vollständiger Zweckmäßigkeit“. Die jüdische Gemeinde bewunderte den Neubau in ihrer Chronik im Jahr 1928: „Der Bau kann nach seiner Vollendung als sehr gut gelungen und schön bezeichnet werden.“ Hermann Nachmann schrieb: „Es ist eine Zierde des lieblichen Murgtalstädtchens Gernsbach, dieses schöne Gotteshaus“. Dementsprechend groß war der Zustrom der Gäste und der Gernsbacher, die sich die Einweihung dieses Gebäudes nicht entgehen lassen wollten. Der Bezirksrabbiner aus Offenburg nahm die Weihe des Gotteshauses vor. Ernst Bernauer, Stadtpfarrer der katholischen Gemeinde, und Lehrer Münz für die evangelische Gemeinde sprachen jeweils Grußworte.

1938 wurde die Synagoge während des Novemberpogroms zerstört: Sie wurde von den Nationalsozialisten bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Heute erinnert nur der „Synagogenweg“, die Fußgänger-Verbindung zwischen Austraße und Blumenweg, und eine Gedenktafel an die einstige Synagoge.

Das Wohnhaus de Weerth wurde von Richard Fuchs entworfen.

Am heutigen Synagogenweg findet sich ein weiteres Gebäude des Architekten Richard Fuchs. 1929 schuf er das Wohnhaus aus Backsteinen für den Zahnarzt Gustav de Weerth.

 

Der Synagogenweg führt entlang des einstigen Anwesens der Gernsbacher Synagoge. Foto: Meier

In seiner erfolgreichen Karriere als Architekt verlor er niemals seine Liebe zur Musik und zum Komponieren. 1932 fand in Karlsruhe einen Konzert- und Liederabend mit seinen Werken statt. Die Zeitung urteilte danach: „Dr. Richard Fuchs ist nicht nur ein Architekt von Rang, er stellte sich für die Außenstehenden in überraschender Weise auch als Komponist von sehr beachtlichen Graden vor.“ Damals ahnte er nicht, dass dies die letzte Aufführung seiner Musik in Deutschland für viele Jahrzehnte war.

Nach dem Siegeszug der Nationalsozialisten wurde das Leben und Arbeiten für den Juden Richard Fuchs immer schwieriger. Den Maßnahmen, die Juden aus Beruf und dem öffentlichen Leben zu verdrängen, fiel auch Richard Fuchs zum Opfer. Bereits 1933 musste er Einschränkungen in seinen Arbeitsmöglichkeiten hinnehmen, ab 1935 wurde er mit einem  Arbeitsverbot belegt, seine Kinder der Schule verwiesen. Nach dem Pogrom am 10. November 1938 wurde er von den Nazis nach Dachau abtransportiert und kam erst im Dezember wieder frei. Danach war ihm bewusst, dass er aus Deutschland mit seiner Familie fliehen musste, dass er als Jude keine Zukunft mehr in seinem Heimatland hatte. Seine Frau Dora setzte alles in Bewegung, damit sie das Land verlassen konnten. Sie verkauften ihr Haus in Karlsruhe, verschifften Möbel, Bücher und Noten in Containern und verließen mit ihren beiden Kindern Deutschland. 

Das Haus von Richard Fuchs in Neuseeland. Foto: Familienarchiv Fuchs

Als Richard Fuchs mit seiner Familie schließlich 1939 in Neuseeland ankam, hatte er Probleme, eine Anstellung in Wellington zu finden. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verschlechterte sich die Stellung von Richard Fuchs. Er wurde als Deutscher angesehen, er galt als „Enemy Alien“.

Richard Fuchs in seinem Gemüsegarten in Neuseeland. Foto: Familienarchiv Fuchs

Eine Zeitlang hatte er gehofft, dass sein Stück „Vom jüdischen Schicksal“ aufgeführt wird. Der neuseeländische Dichter Alan Mulgan (1881-1962) hatte den deutschen Text des Chor-Werkes ins Englische übersetzt. Aber leider misslangen die Versuche. Letztlich fand erst 2015, fast 70 Jahre nach seinem Tod, die Premiere seines Werkes „Vom jüdischen Schicksalin Neuseeland statt.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erhielt er die neuseeländische Staatsbürgerschaft, auf die er sehr stolz war. Doch in den letzten 20 Monaten seines Lebens komponierte er nicht mehr. Seine Tochter konnte in ihren Erinnerungen nur  Vermutungen über die Gründe anstellen: Ob es die Enttäuschung über die geringe Aufmerksamkeit war, die in Neuseeland seinen Kompositionen geschenkt wurde, oder die Trauer, als er von dem Tod seiner Schwester erfuhr, die 1943 in Auschwitz ermordet worden war.

Richard Fuchs starb nach kurzer Krankheit im September 1947. Seine Asche wurde in den Bergen Neuseelands beigesetzt.

Nach seinem Tod wurde einige Anläufe unternommen, seinem Werk gerecht zu werden. So wurde seine Komposition „New Zealand Christmas Carol“ 1954 beim Besuch der englischen Königin Elisabeth  von einem Kinderchor vorgetragen und gehört seither zu den am meisten verbreiteten Werken des Komponisten.

Aufmerksamkeit errang 2008 der Dokumentarfilm von Danny Mulheron, seinem in Neuseeland lebenden Enkel, der bei der Aufarbeitung des Nachlasses seines Großvaters viele erstaunliche Entdeckungen machte. Der Film „The Third Richard gibt einen Überblick über das Leben und Werk des Künstlers, aufgenommen an Originalschauplätzen. Darin kommt auch Gernsbach vor, mit historischen Abbildungen der Synagoge. Den Titel lehnte der Enkel an einen Ausspruch des Vaters von Richard Fuchs an, der bereits bei der Geburt  seines Sohnes ihn in der Reihe von Richard Wagner und Richard Strauss als „dritten Richard“ sah.

Richard Fuchs‘ Schicksal war es, den Holocaust überlebt zu haben, aber in Vergessenheit zu versinken. „In Deutschland war er der Feind, da er Jude war, in Neuseeland weil er Deutscher war“, schildert der Enkel das freudlose Leben von Richard Fuchs im Exil.

In den letzten Jahren wurden einige Kompositionen von Richard Fuchs in Neuseeland wie in seiner Heimatstadt Karlsruhe aufgeführt. Erst kürzlich gab es ein Konzert mit seinen Werken in Jerusalem. Somit erfährt er eine späte Anerkennung seines künstlerischen Schaffens.

Regina Meier

 

Quellen:

– Dr. Ulrich Schumann: Begleittext zur Ausstellung „Am Sabbat auf dem Weg zur Synagoge – Die Gernsbacher Synagoge 1928-1938; 2018

– Youtube-Film „The Third Richard“ von Danny Mulheron: https://youtu.be/HjhqfiWjr5k

– Webseite: https://richardfuchs.nz

– Generallandesarchiv, Akten 371 Zugang 1981-42, 226

Der Artikel erschien im Gernsbacher Bote 3/2022, Seite 9-11

Zweite Stolperstein-Verlegung in Gernsbach

Eindrucksvolle Gedenkfeier für Euthanasie-Opfer

Vorbereitung für die Verlegung des Stolpersteins in der Storrentorstraße.

Das Scharren der Kieselsteine war noch zu hören, als die Musik „Ghetto“ bereits erklang. Bei der Verlegung der Stolpersteine in der Altstadt von Gernsbach hatte der Künstler Gunter Demnig bereits mit dem Freilegen der Vertiefung für den Stolperstein begonnen, als noch die Musik für die Umrahmung der Gedenkfeier spielte.

Anfang März fand die zweite Verlegung von Stolpersteinen in Gernsbach statt. Dieses Mal wurde Opfern der Euthanasie-Programmen der Nazis gedacht, die aufgrund ihrer geistigen Konstitution sterben mussten. Nun erinnern vier Stolpersteine an Luise Geiger in der Storrentorstraße 3, an Ludwig Schneiderhan in der Hauptstraße 45, und an die Brüder Albert Gebhard und Karl Gebhard in der Schlossstraße 8. Sie wurden 1940/41 im Rahmen der sogenannten T4-Aktion ermordet. Dieses Programm wurde nach dem Ort der Planungszentrale der Morde an Menschen mit Behinderungen und mit psychischen Krankheiten, Tiergartenstraße 4 in Berlin, benannt.

Gunter Demnig (ganz links) verfolgt die Gedenkfeier am Metzgerplatz, bevor er zur Verlegung des nächsten Stolpersteins geht.

Gerold Stefan, Lehrer an der Musikschule Gernsbach, hatte die passenden Musikstücke für die Feier ausgesucht. Er spielte mit seiner Klarinette das Adagio von Friedrich Demnitz, „The Blessing Nigun“ von Jerry Sperling, „Jenseits der Stille“ von Niki Reiser und das Stück „Ghetto“.

Eindringlich verhallten die Melodien auf dem weiten Metzgerplatz. Dort hatten sich zahlreiche Bürgerinnen und Bürger Gernsbachs versammelt, um den Opfer der Euthanasie-Programme der Nationalsozialisten zu gedenken.

Michael Chemelli, Bürgermeister-Stellvertreter, fand die passenden Worte, um an das unfassbare Geschehen um die Opfer der NS-Euthanasieprogramme zu erinnern. Er betonte in seiner Einführung, dass es heute die Pflicht von uns allen ist, daran zu arbeiten, dass sich ein solches Geschehen niemals wiederholt. Besonderen Dank sprach er an Stadtarchivar Wolfgang Froese aus, dessen Recherchen es zu verdanken ist, dass an die vier getöteten Gernsbacher erinnert werden kann. Bislang war wenig über die Ermordung von behinderten Menschen aus Gernsbach bekannt, daher bedurfte es grundlegender Archivarbeit, die Details und Hintergründe über den Abtransport zu finden.

Bereits zum zweiten Mal verlegt Gunter Demnig Stolpersteine in Gernsbach.

„Ich bin Ludwig Schneiderhan“, begann die Darstellung der Einzelschicksale der vier Opfer durch Schülerinnen und Schüler der Realschule Gernsbach. Unter der Leitung ihrer Lehrerinnen Elvira Schulz (Geschichte) und Johanna Wilhelm-Lang (ev. Religion) hatten sie sich in Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv auf diese Gedenkfeier vorbereitet. Lea Clausen, Sara Oertel, Elias Schmidt und Alica Herzog hatten die Texte, mit denen sie das Schicksal der jeweiligen Person vorstellten, in der „Ich-Form“ geschrieben und vermittelten somit eindringlich, dass sie sich intensiv auf diese Gedenkfeier vorbereitet hatten. Die Anwesenden waren betroffen von den Texten, weil sie auch in beklemmender Weise deutlich machten, wie sehr die Menschenwürde im Dritten Reich mit Füßen getreten worden war. Mit der Beteiligung der Schülerinnen und Schüler wurde ein Kern-Ziel des Gemeinderats-Beschlusses zu den Stolpersteinen umgesetzt. 2019 hatte das Gremium einstimmig beschlossen, zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus sich der Stolperstein-Aktion anzuschließen und insbesondere die örtlichen Schulen zur Pflege und kontinuierlichen Erinnerungsarbeit einzubinden.

Rita und Hans-Joachim Scholz, Pfarrer i.R. der evangelischen Gemeinde, sprachen in Anwesenheit von Dekan Josef Rösch ein Gebet. 

Teilnehmer der Gedenkfeier legten Blumen nieder an den Stolpersteinen.

Gemeinsam mit Mitarbeitern vom Bauhof zog der Künstler Gunter Demnig vom Metzgerplatz in die Schlossstraße 8 weiter, wo die beiden Stolpersteine für die Brüder Albert und Karl Gebhard verlegt wurden. Anwohner legten später Blumen an den einzelnen Stolpersteinen nieder.

Regina Meier

Dieser Beitrag erschien im “Gernsbacher Boten” 1/2022 im Casimir Katz Verlag am 6. April 2022

 

80 Jahre nach der Deportation nach Gurs

Gedenken an jüdische Mitbürger

Vor 80 Jahren endet das jüdische Leben in Gernsbach. Mit dem Abtransport der letzten verbliebenen jüdischen Bürger nach Gurs findet die Ausgrenzung und Auslöschung des jüdischen Lebens durch die Nationalsozialisten in Gernsbach ihren Schlusspunkt. Neun Gernsbacher werden ultimativ von der Gestapo an dem Morgen des 22. Oktober 1940 aufgefordert, ihre Koffer zu packen und sich zum Abtransport an der Stadtbrücke einzufinden.

Auch bei Hermann Nachmann in der Bleichstraße 2 klopfte die Gestapo am 22. Oktober 1940. Foto: Privatbesitz Götz

Die Gestapo klopft an die Tür in der Bleichstraße 2 bei Hermann Nachmann, in der Bleichstraße 4 müssen sich Arthur und Erna Kahn sowie deren Schwester Hilda Dreyfuß und die beiden Töchter Lieselotte und Margarethe fertigmachen, und in der Bleichstraße 14 haben Eugen Lorsch und seinem Sohn Heinz sowie die Hausgehilfin Bertha Marx keine Wahl, dieser Anordnung zu folgen. Die Aktion findet am Morgen des letzten Tages des Laubhüttenfestes, Sukkoth, statt, einer der traditionellen Festtage der Juden, die im Kreis der Familien gefeiert werden. Die Einsatzkommandos können also davon ausgehen, dass sie in allen jüdischen Haushalten die Familienmitglieder antreffen. Innerhalb einer Stunde sollen sie sich reisefertig machen, ins Handgepäck dürfen lediglich Verpflegung für ein paar Tage, eine Wolldecke, Ess- und Trinkgeschirr und pro Person 100 Reichsmark mitgenommen werden. Von Gernsbach werden die sie mit einem Lastwagen nach Rastatt abtransportiert, dort geht es mit dem Zug in das südwestliche Frankreich, nach Gurs, einem Lager am Fuße der Pyrenäen, weiter. Über 6.000 jüdische Bürger aus Baden, Rheinland-Pfalz und dem Saarland werden im Oktober 1940 von den Nationalsozialisten in das Lager Gurs deportiert.

Heute erinnert nur wenig an das einstige Lager in Gurs.

Unvorstellbare Lagerbedingungen
Viele der Deportierten sterben dort oder in weiteren Lagern. Die Baracken verfügen weder über sanitäre Einrichtungen noch Trennwände oder verglaste Fenster. Kälte und Hunger bestimmen den Tagesablauf. Erschütternde Zeugnisse über die Situation in dem Lager sind durch einen Brief des Gernsbachers Arthur Kahn überliefert. Er schreibt an das Bürgermeisteramt und bittet um die Übersendung von Kleidern, Schlafdecken und Handtücher: „Für alles wollen wir gerne aufkommen, wir befinden uns hier mit meinen kleinen Kindern wirklich in der größten Not, so möchte ich nochmals bitten, die Zusendung auf dem bestmöglichsten, schnellsten Wege erfolgen zu lassen, ohne Rücksicht nehmen zu wollen auf die Höhe der Unkosten. Für ihre Mühe danke ich im voraus, auch im Namen meiner Frau, Schwägerin und Kinder.“ Unterschrieben mit „Arthur Kahn, einst: Gernsbach, Bleichstraße 4“.

Camp de Rivesaltes.

Arthur Kahn stirbt bald darauf, noch im Jahr 1941, 54 Jahre alt, in Rivesaltes, seine Frau Erna Kahn und ihre Schwester Hilde sowie Bertha Marx werden aus Gurs in ein Vernichtungslager, wahrscheinlich Auschwitz, transportiert und 1942 umgebracht. Die Kinder Margarethe und Lieselotte Kahn werden von der Hilfsorganisation OSE (Oeuvre de Secours aux Enfants) gerettet. Die OSE betreibt selbst einige Kinderheime in der unbesetzten Zone, sucht Angehörige der Kinder im Ausland und verhilft ihnen zur Ausreise. So gelangen die beiden Kahn-Töchter zu Verwandten in den USA. Der Jugendliche Heinz Lorsch, im Jahr der Deportation 15 Jahre alt, flieht und schließt sich der französischen Resistance an. Sein Vater Eugen Lorsch stirbt 1941 in Gurs.
Heute ist vom ehemaligen Lager Gurs nicht mehr viel übrig. Man betritt das Gelände über ein Mahnmal, das genau an der gegenüberliegenden Seite des damaligen Eingangs liegt und mit der zwei Kilometer langen Lagerstraße verbunden ist. 1963 wurde der Friedhof restauriert. Die 1.073 identischen Gräber stehen um das Mahnmal die für die jüdischen Opfer aus Gurs. Eine Arbeitsgemeinschaft badischer Städte sich für die Pflege des Friedhofs ein.

Wie konnte es soweit kommen?
Mit dem Tag der Machtübernahme Hitlers verändert sich das Zusammenleben der jüdischen Mitbürger und ihren Nachbarn von Grund auf. Seit Generationen gewachsene Gemeinsamkeiten werden zerstört, und die Diskriminierung der jüdischen Bürger wird Schritt für Schritt umgesetzt. Die Juden werden aus dem öffentlichen Leben ausgegrenzt: 1935 wird eine Judenkartei angelegt, die sämtliche Mitbürger jüdischen Glaubens auflistet, verdächtige Personen werden überwacht. „Kauft nicht bei Juden“ ist auch in den Geschäften jüdischer Kaufleute in Bleich- und Igelbachstraße und auf dem Marktplatz zu lesen, die Gewerbe- und Führerscheine müssen abgegeben werden. Den Menschen wird die Existenzgrundlage entzogen.
Anfänglich vollzieht sich die Ausgrenzung der Juden fast schleichend für viele unsichtbar und unbemerkt. Doch immer mehr wird die Unmenschlichkeit offenbar: so müssen nach der Reichspogromnacht alle jüdischen Kinder Gernsbachs die Schule verlassen.

Wertvolle Erinnerungsarbeit

Im Jahre 2000 fand eine eindrucksvolle Matinee anlässlich der Errichtung des ersten Gedenksteins für die Deportation der Gernsbacher Juden statt

Zum Jahrestag der Deportation am 22. Oktober wird seit 20 Jahren wertvolle Erinnerungsarbeit an die letzten jüdischen Mitbürger in Gernsbach praktiziert. Den Anstoß dazu gab der Arbeitskreis Stadtgeschichte Gernsbach. Die damaligen Mitwirkenden gestalteten einen würdigen Rahmen für die Enthüllung des Gedenksteins zur Erinnerung an die jüdischen Bürger Gernsbachs an der Stadtbrücke im Jahr 2000.
Es folgte 2008 ein weiterer Gedenkstein in einem ökumenischen Projekt von den Konfirmanden und Firmanden. Sie gestalteten mit der Steinmetzin einen Stein, dessen Zwilling in Neckarzimmern steht. Er zeigt ein Floß aus Baumstämmen, mit Flößerhaken zusammengehalten, doch links greifen die Haken ins Leere, dort ist der Stamm der jüdischen Mitbürger weggerissen, ein Verlust, der unwiederbringlich ist.

Alljährlich werden am 22. Oktober bei den Gedenksteinen Kerzen entzündet und Rosen niedergeleg.

In den vergangenen Jahren gestalten jeweils verschiedene Gruppen die jeweilige Gedenkfeier unter Leitung des Arbeitskreises Stadtgeschichte mit. Regelmäßige Teilnehmer sind Vertreter der christlichen Kirchen, der politischen Gemeinde und verschiedener gesellschaftlicher Gruppen. Auch von Seiten der Schulen ist jeweils eine Schülergruppe eingebunden, die sich mit Textbeiträgen, aber auch Malereien, verzierten Kerzen oder Szenenspiel einbringt. Besonderes Gewicht erhält diese Gedenkfeier, da seit einigen Jahren Nachfahren der einstigen Deportierten die Feier besuchen. Der Teilnahme von zahlreichen Gernsbachern an der Gedenkfeier zeigt, wie wichtig den Bürgern die Erinnerung an die Opfer der einstigen Verfolgung und Diskriminierung durch die Nationalsozialisten ist.
Auch in diesem Jahr wird wieder zur 80. Wiederkehr der Deportation eine Gedenkfeier am 22. Oktober stattfinden. Aufgrund der aktuellen Corona-Situation wird der Ablauf kurz zuvor in der Tagespresse und den sozialen Netzwerken bekannt gegeben.

Regina Meier

Dieser Beitrag erschien im “Gernsbacher Boten” 3/2020 im Casimir Katz Verlag am 15. September 2020

Führung auf dem Sabbatweg

Die Stadtführung „Auf dem Sabbatweg“ am Sonntag, 06. September 2020, führt zu den Orten des einstigen jüdischen Lebens in Gernsbach.
Der Arbeitskreis Stadtgeschichte Gernsbach hat mit Unterstützung des Kulturamtes und des Stadtarchivs der Stadt Gernsbach diesen „Sabbatweg“ vorbereitet. Damit soll der einstige Gang der Familien jüdischen Glaubens aus ihren Wohnungen zur Synagoge in der Austraße nachempfunden werden. So soll die Geschichte der Gernsbacher jüdischen Glaubens, die einst in Gernsbach ihre Lebensmitte hatten, erfahrbar gemacht und vor dem Vergessen bewahrt werden.

Die Führung wird jährlich am europäischen Tag der jüdischen Kultur durchgeführt. In diesem Jahr kann der Arbeitskreis Stadtgeschichte wieder ein weiteres Detail der jüdischen Vergangenheit Gernsbachs präsentieren. Mit einem bisher unveröffentlichten Foto aus dem Jahr 1914 von Hermann Nachmann, dem letzten Synagogenvorsteher Gernsbachs, in seinem Verkaufsraum in der Bleichstraße wird ein rares Zeugnis der reichen Vergangenheit jüdischer Geschäfte präsentiert.
Treffpunkt: Kornhaus Gernsbach, Hauptstraße 32.
Dauer: ca. 1,5 Stunden. Teilnahme kostenlos.

Passend gibt es eine Broschüre zu dem Rundgang „Der Sabbatweg von Gernsbach“, erhältlich in der Tourist-Info Gernsbach. Preis: 5,- Euro
Die Broschüre kann auch bestellt werden per E-Mail an service@verlag-am-mauergarten.de

Der Sabbatweg von Gernsbach

Einladung zu einem Rundgang
Herausgegeben von der Stadt Gernsbach
Autoren: Arbeitskreis Stadtgeschichte:  Regina Meier, Dr. Irene Schneid-Horn, Winfried Wolf
28 Seiten. 29 Abbildungen
Broschüre mit aufklappbarem Umschlag, mit einer Karte zum Sabbatweg und seinen Stationen
ISBN 978-3-928213-24-0
Ladenpreis 5,– Euro
Barbara Staudacher Verlag, Horb a. N.

Erhältlich bei der Stadtverwaltung Gernsbach, Kultur und Tourismus, Igelbachstraße 11, 76593 Gernsbach

oder eine Mail an service @ verlag-am-mauergarten.de senden

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Ein jüdisches Schicksal – Eugen Neter

Auf einer Wanderung vom Müllenbild nach Gernsbach kommt man an einer Hütte vorbei, die den Namen Neter-Hütte trägt. Auf der Suche nach der Herkunft dieses Namens stößt man auf die jüdische Familie Neter, die bis Anfang dieses Jahrhunderts in Gernsbach gelebt hat. Nur schwach sind noch die Spuren, die man in Gernsbach von dieser Familie findet, und doch ist die Familie Neter eine der jüdischen Familien in Gernsbach, die lange Jahrzehnte zum Gernsbacher Stadtleben gehört, die nicht nur das wirtschaftliche Geschäftstreiben durch ihre Händler- und Handwerkstätigkeiten maßgeblich geprägt hat, sondern auch aktives Mitglied der jüdischen Gemeinde war.

Eugen Neter (1876 – 1966)
Quelle: Stadtarchiv Mannheim
Ein berühmter Sohn dieser Familie, Eugen Neter, erwarb über die Grenzen seiner Geburtsstadt Gernsbach und Wirkungsstätte Mannheim hinaus Berühmtheit. Als Arzt hat er seine Dienste nicht nur den Mitgefangenen in dem französischen Konzentrationslager Gurs zur Verfügung gestellt, sondern auch später in Israel sein persönliches Schicksal den Anforderungen, die an seinen Beruf gestellt wurden, während des 7-Tage-Krieges, untergeordnet.

Anfang des 19. Jahrhunderts kommt die Familie Neter nach Gernsbach. Sie betreibt eine offene Warenhandlung, aus der später eine Eisenwarenhandlung wird. Bereits 1819 ist Raphael Neter als Besitzer eines zweistöckigen Hauses an der Hofstätte eingetragen, zu der nicht nur ein Wohnhaus, sondern auch eine Stallung, ein Magazin und eine Schmiedewerkstätte gehören. Sein Sohn Isaak (1804-1875) übernimmt 1835 das väterliche Geschäft. Isaak Neter wurde bereits 1848 für wenige Monate in den Gernsbacher Synagogenrat gewählt, aber erst 1869 zum vollgültigen Mitglied ernannt. Die israelitische Gemeinde Gernsbach war auch im 19. und 20. Jahrhundert klein. 1825 zählte sie 56, 1875 32, 1895 68, 1900 57, 1925 65 und 1933 54 Seelen.
Isaak Neters Sohn Joseph geht später nach Mannheim und steht dort der Eisenwarenfabrik und Verzinkerung J. Neter Sohn vor.
Sohn Eli (1837-1908) bleibt in Gernsbach und übernimmt das Gernsbacher Hauptgeschäft.
Eli Neter heiratet die Jüdin Auguste Sinnauer aus Grötzingen (1843-1895). Insgesamt zwölf Kinder entstammen dieser Ehe. 1881 erwirbt die Familie das stattliche Haus am Marktplatz, heute Hauptstraße 21, in unmittelbarer Nachbarschaft zum Alten Rathaus und der damaligen Höheren Bürgerschule.

Die Kinder der Familie Neter sind alle miteinander fleißige Besucher der Höheren Bürgerschule. Das Schicksal von dreien der Kinder soll hier genauer betrachtet werden.
Moritz (Walter) Neter, geboren 1878 in Gernsbach, kam 1887 in die hiesige Bürgerschule. ging später auf das Rastatter Gymnasium, um dann Jura in Heidelberg zu studieren. Nach 1903 lebte er als Rechtspraktikant in Gernsbach, zog aber später nach Baden-Baden und hat die Stadt Gernsbach offiziell in mehreren Rechtsfällen vertreten. Sein weiterer Lebensweg lässt sich nicht mehr genau weiterverfolgen. Es soll ihm gelungen sein, nach England zu emigrieren, dort eine Stelle als Syndikus eines Zigarettentrustes innegehabt zu haben. Sein Todesjahr ist vermutlich 1956. Er veröffentlichte einige Novellen und Erzählungen und publizierte auch Beiträge in der Beilage „Pyramide” des Karlsruher Tagblattes.

Eugen Neter wurde 1876 als sechstes Kind der Familie in Gernsbach geboren. In seinen Erinnerungen, die er anlässlich seines 80. Geburtstages niederschrieb, schaute er voller Dankbarkeit auf seine Kindheit in Gernsbach zurück: Die ersten 17 Lebensjahre verliefen „genau so friedlich ungestoert, wie das ganze Leben in dem kleinen Gebirgs-Staedtchen, in welchem ich meine Kindheits- und Jugendjahre gelebt habe. Ich habe sie in lieber Erinnerung … Manchmal zog ein Baerentreiber musizierend durch die Strasse; einmal im Jahr gab eine Seiltaenzergruppe vielbestaunte Vorstellungen und zweimal im Jahr war grosser Markt mit Scbiessbuden und Karussels … Die Tageszeitung erschien einmal in der Woche … “.

In der Nachbarschaft der Familie Neter am Marktplatz in Gernsbach wohnte die Familie Maas, deren Sohn Hermann, der spätere Prälat Dr. h.c. Hermann Maas, seit der Kindergarten- und Schulzeit ein Freund Eugen Neters war. Diese Freundschaft blieb bis ins hohe Alter lebendig; so besuchte Hermann Maas Eugen Neter häufig in seiner neuen Heimat Deganiah in Israel.

Nachdem Eugen Neter das Abitur am Rastatter Gymnasium absolviert hatte, begann er 1894 mit dem Studium der Medizin in München und Heidelberg, wo der 1899 die medjzinische Staatsprüfung ablegte und 1900 an der mediznischen Fakultät promovierte. Seine beruflichen Stationen führten ihn über die Assistenzarztstelle an einem Berliner Krankenhaus nach Mannheim, wo er 1903 eine Praxis als Kinderarzt eröffnete. Die ersten Jahre seiner Praxis waren nicht leicht. Damals wollten die ärztlichen Vereine die Bezeichnung als Kinderarzt nicht anerkennen. Neben seiner Praxis führte er ein Säuglingsheim mit einer Schwesternschule und gab Unterricht in einem Kindergärtnerinnen-Seminar. Zeit seines Lebens war ihm die Weitergabe seiner Kenntnisse ein Anliegen. Er war ebenso ehrenamtlich leitender Arzt eines Heimes für uneheliche Mütter, zur damaligen Zeit war dies nicht gerade eine Stufe zum gesellschaftlichen Aufstieg. Zahlreiche Publikationen aus jener Zeit dokumentieren sein starkes berufliches Engagement, vor allem für Kinder.

Dr. Eugen Neter und seine Frau Marie Luise 1946. Quelle: Stadtarchiv Mannheim
1909 heiratet er die Christin Luise Janson (1876-1950). Eugen Neter nahm am Ersten Weltkrieg teil, wo er als Stabsarzt in Frankreich an der Front eingesetzt war, und wurde mit der Kriegs-Rettungsmedaille ausgezeichnet. Nach dem Krieg wurde er Vorsitzender der Mannheimer Ortsgruppe des „Reichsbundes Jüdischer Frontsoldaten”.
Schon 1936 mussten die jüdischen Ärzte Behinderungen bei der Ausübung ihres Berufes hinnehmen. Auf Briefbogen und Rezepten hatte der Arzt stets einen Stempel „nur zur Behandlung von Juden zugelassen” zu führen. Eugen Neter, ein in weiten Kreisen bekannter und geschätzter Kinderarzt, konnte lange Zeit eine Sonderstellung einnehmen. Wie sein Freund Maas rückblickend urteilte: ,,Aus dem Kinderarzt war der Vater aller Verfolgten in Mannheim geworden.” Doch Eugen Neter ahnte schon damals die fürchterliche Tragödie des Schicksals der Juden in Deutschland: „Wie lang werd ich noch hier bleiben können?”, und verschenkte ein Bild des Storchenturms in Gernsbach an seinen Freund aus den Kindheitstagen, Hermann Maas. ,,Komm, nimm’s in deine Hut und behalte es als Erinnerung an mich und unsere Heimat”, erinnert sich Hermann Maas.

Bei den Pogromen vom 10. November 1938 wurde Neter für kurze Zeit verhaftet, danach übernahm er den Vorsitz der jüdischen Gemeinde in Mannheim. In dieser schweren Zeit bemühte er sich vor allem um die Einrichtung von Lehrwerkstätten, um der Jugend für die Auswanderung eine handwerkliche Grundlage zu geben.

Fünf der Geschwister Eugen Neters waren bereits in den dreißiger Jahren in die USA, Brasilien und Argentinien ausgewandert und haben sich so vor den Verfolgungen der Nazis in Sicherheit gebracht. Sein Sohn Martin (Schau!) wanderte 1934 nach Israel aus. Doch drei der Geschwister Eugen Neters wurden letztlich Opfer des Holocaust.

Der 22. Oktober 1940 war für Eugen Neter wie für viele seiner jüdischen Glaubensbrüder ein schicksalhafter Tag. Am frühen Morgen wurden die rund 6.500 noch in Baden, der Pfalz und im Saarland lebenden Juden festgenommen und zu Fuß, mit Lastwagen, Militärfahrzeugen in bereitstehende Züge verfrachtet. Die jüdischen Mitbürger mussten ihre Heimatstädte verlassen und wurden deportiert. Da die für das Packen zur Verfügung gestellte Zeit bei vielen recht knapp war und die verursachte Aufregung ein überlegtes Handeln unmöglich machte, war das mitgenommene Gut unzureichend, was sich bei den schwierigen Haftbedingungen als verhängnisvoll erweisen sollte.
Eugen Neter begleitete die Mannheimer Juden, die deportiert wurden, freiwillig, da er mit einer Christin verheiratet war, hätte er in Mannheim bleiben können. Er fühlte sich als Vorsteher der jüdischen Gemeinde für seine Glaubensbrüder verantwortlich und wollte sie nicht alleine diesen schweren Weg gehen lassen. Eugen Neter berichtet über diesen tragischen Tag selbst: ,,Gegen 1 Uhr verließ ich die mir in Freud und Leid liebgewordenen Räume …. Ich schloß als letzter die Tür.”
Kurz und ohne Verbitterung berichtet er als alter Mann über sein Schicksal während des Zweiten Weltkriegs: ,, Dann kamen 5 Jahre Konzentrationslager (K.Z.); ich habe sie gesund ueberstanden.”

Eugen Neter wurde wie all die anderen Juden aus Baden ins Lager Gurs gebracht. Dort entwickelte er sich zum Retter vieler Kranker, er stand allen Notleidenden als Arzt und Helfer zur Seite. Das Lager Gurs, am Fuße der Pyrenäen nahe der spanischen Grenze, war das größte Internierungslager in Frankreich und beherbergte etwa 14.000 Häftlinge. Der ständige Hunger, das Fehlen der ärztlichen Versorgung, der Mangel an Kleidung und Hygiene machten das Leben in dem Lager zur Hölle, wie die Überlebendenden in zahlreichen Dokumentationen berichten. ,,Die katastrophalen Ernährungs- und Lebensverhältnisse führten dazu, daß vor allem ältere Menschen vor Schwäche nicht mehr aufstehen konnten und krank wurden,” gibt einer der Inhaftierten nach Ende des Krieges zu Protokoll.
Die Unterernährung und die Kälte werden zur Hauptursache der großen Zahl der Erkrankungen.

Unter schwierigsten Bedingungen gelingt es Eugen Neter, eine Krankenstation aufzubauen und zumindest notdürftig für die Kranken zu sorgen. ,,Die Krankenbaracken waren bald zu klein, um die Patienten aufzunehmen, und so starben viele in der traurigen Umgebung primitiver Hilfsreviere,” erfahren wir aus den Augenzeugenberichten über die Bemühungen der dortigen Ärzte und Helfer.
Der folgenschwere Mangel an Arznei, Pflegemitteln, Nahrung und Diät wird von Dr. Eugen Neter bei der Lagerleitung vorgebracht. Sein nüchterner Bericht über die Verhältnisse in Gurs macht beklommen und lässt das tiefe Elend der Lagerinsassen nur erahnen: ,,In den kalten Behelfsbaracken mit 30 bis 40 Durchfallkranken ist eine einzige Bettschüssel. Furchtbar war die Beschmutzung bei dem Mangel an ._ Wäsche, unsagbar die dadurch körperlich und seelisch verursachte Qual. Was jüdische Schwestern und Helferinnen damals geleistet haben, kann voll nur würdigen, wer die ungünstigen Verhältnisse miterlebt hat, unter denen sie damals ihren schweren Dienst antreten mußten. In jenen drei Monaten starben ungefähr weit über 600 Männer und Frauen. Viele starben in den ersten Monaten ohne nachweisliche Erkrankung; das Herz, der ganze Körper ertrug die Umstellung nicht und versagte. Ebenso der Lebenswille, der gebrochen war durch das Furchtbare der neuen, unerträglichen Umgebung.” Neter berichtet weiter von den engen Wohnbedingungen in dünnwandigen, überfüllten, bis 65 Menschen beherbergenden Baracken, im Winter vereist und dunkel, im Sommer glühend, die zu Beginn im Regen zu unvorstellbarem Morast gewordenen Wege, die fürchterliche Qual der Pfade zu der notwendigen Benutzung der Latrinen.
Der ruhrartigen Darmerkrankung zu Anfang und Mitte des Winters 1940/41 folgte gegen dessen Ende eine epidemische Gehirnhautentzündung, die weitere zahlreiche Todesopfer forderte, so dass nach viereinhalb Monaten die Zahl der Toten auf 1.050 gestiegen war.
Von den Mitgefangenen ist in zahlreichen Berichten der aufopfernde Einsatz des Gernsbachers überliefert.
„Sein Wirken unter jenen Bedingungen, ohne offiziellen Status, sondern der moralischen Autorität gehorchend, wurde für viele zum rettenden Beispiel”, wird später in einer Veröffentlichung über das Lager Gurs geschrieben. Neter selbst berichtet: ,,Die anfänglichen Mißstände auf gesundheitlichem Gebiet wirkten sich verhängnisvoll aus. Die Monate November/Dezember 1940 und Januar 1941 sahen ein grausames Massensterben … Meine Arbeit geht hier weiter. Bei allen materiellen und seelischen Unzulänglichkeiten ist meine Arbeit nicht undankbar, so daß ich meinerseits dem Schicksal danke, daß es mir eine solche Arbeitsmöglichkeit gewährt hat.” Möglichkeiten, das Lager zu verlassen, z.B. als Leiter eines Altersheimes in Frankreich, nahm er nicht wahr: ,,Ich bin ja schließlich nicht ins Exil gegangen, um in einer solchen Stellung leben zu können, während meine Gemeinde in den kalten Baracken hungernd hinter dem Stacheldraht jede sorgende Hand braucht.” Im August 1942 war die Zahl der Internierten auf kanpp 1.000 zurückgegangen. Neter berichtet: ,,Von den einstigen Baden-Pfälzern sind nur noch ganz wenige hier …. Die einstige Hölle hat viel von ihrem Schrecken verloren; geblieben ist: der Hunger und der Stacheldraht.”

Dr. Eugen Neter 1956. Quelle: Stadtarchiv Mannheim
1945 endet der Schrecken von Gurs, der Sohn Eugen Neters holt ihn nach Israel. 1946, immerhin bereits 70 Jahre alt, ziehen Eugen Neter und seine Frau zu ihrem Sohn nach Deganiah, Israel. Dort verbringt er die nächsten 20 Lebensjahre. Er wollte sich zur Ruhe setzen, doch das Schicksal entschied anders.
1948, während des 1. israelisch-arabischen Krieges, des israelischen Unabhängigkeitskrieges, stellte er sich nochmals als Arzt zur Verfügung, Deganiah wurde zur Frontstadt. Tief getroffen von dem kämpferischen Einsatz der israelitischen Jugend musste er während der Hilfsdienste bekennen: ,,Das ist der Dritte Krieg in meinem Leben. Solch eine Jugend habe ich noch nie gesehen.” Kurz darauf starb sein Sohn, der sich ebenfalls aktiv an den Kämpfen beteiligt hatte, als Opfer dieses Krieges. Kurz darauf starb seine Frau. Da zog sich Eugen Neter völlig zurück und widmete sich ganz seinem Hühnerhof in Deganiah, hoch über dem See Genezareth.
1960 erschienen Auszüge aus einem Brief Neters im Badischen Tagblatt. Er hatte wieder Beziehungen zu seiner Geburtsstadt aufgenommen. Es war erstaunlich, wie sehr er sich an die Nachbarn rund um den Marktplatz, die Lehrer den Gendarm, an die Geschäftsleute und Handwerker mit all ihren Namen erinnern konnte. 1961 schrieb Eugen Neter im Alter von 85 Jahren in einem Brief: ,,Nun kann ich nicht mehr allzuviel leisten, habe hier im Kibbuz die Hühner und Bienen zu hüten. Auf meiner Sitzbank am Jordan gehen meine Gedanken oft in die Heimat zurück und ich höre sogar die Murg rauschen.”
Als Eugen Neter 1966 starb, schrieb sein Freund aus den Kindertagen, Hermann Maas, einen Nachruf, der unter anderem in der RheinNeckar-Zeitung erschien und indem er sowohl Neters berufliches als auch vor allem menschliches Wirken würdigt und dem Wissen um die menschliche Größe Neters Ausdruck gibt.
Heute erinnert die Eugen-Neter-Schule in Mannheim, im Stadtteil Blumenau, an diesen herausragenden Arzt und mutigen Mann. Seiner aufopfernden Haltung und seiner Zivilcourage wurden damit ein bleibendes Denkmal gesetzt. An seiner ehemaligen Praxis in Mannheim ist eine Gedenktafel angebracht.

Auch die Schwester Eugen Neters verdient unsere Bewunderung dank ihrer unerschrockenen Haltung während des Zweiten Weltkriegs. Amalie Neter wurde 1873 in Gernsbach geboren. 1897 heiratet sie Ernst Behr und zieht mit ihm nach Mannheim. 1940 wird sie mit den badischen und pfälzischen Juden nach Gurs deportiert. Ihr Bruder Eugen berichtet später, dass sie bald den Beinamen „Mutter Behr” erhalten hatte und schnell zu einem „Quell der Aufmunterung und Aufrichtung” für die übrigen Gefangenen wurde. Die resolute Frau, die auch angesichts des Elends und Sterbens in Gurs nie ihr seelisches Gleichgewicht verlor, starb plötzlich am 27. November 1940.

Die Geschichte der Familie Neter endet bereits Anfang dieses Jahrhunderts in Gernsbach. Die Eltern Eli und Auguste Neter waren verstorben, die Kinder hatten durch Studium und Beruf ihren Wohnsitz in andere Städte verlegt, bis sie die Verfolgung durch die Nazis nochmals in alle Himmelsrichtungen zerstreute. So sind die Relikte, die von der Familie Neter in Gernsbach vorhanden sind, rar. Eines davon ist die eingangs erwähnte Neter-Hütte inmitten des Waldes in Richtung Kieferscheid stehend. Sie wurde von den Kindern für die Eltern Eli und Auguste Neter errichtet, da sie der Wanderidee innig verbunden waren.

Regina Meier

Literatur:
Hundsnurscher, Franz: Die jüdischen Gemeinden in Baden. 1968

Die Judenverfolgung in Mannheim. 1933-1945

Mittag, Gabriele: Es gibt Verdammte nur in Gurs. 1996

Friedericke Siek: Eugen Neter – Ein Beitrag zur pädagogischen Aufgabe des Kinderarztes, InauguralDissertation. 1988

Oskar Althausen: Oktoberdeportation 1940. 1990 International Biographical Dictionary of Central European Emigres 1933-1944

Obst, Johannes: Gurs. 1986

Schadt, Jörn/Caroli, Michael: Mannheim unter der Diktatur. 1997

Becker, Barbara (Hrsg.): Mannheim im Zweiten Weltkrieg – ein Bildband. 1993

Neter, Dr. med Eugen: Muttersorgen und Mutterfreuden : Wie erhalten wir unsere kleinen Kinder gesund? : Ratschläge für die junge Frau, Mannheim 1907

Neter, Walter: Der Geigenkasten und andere Novellen. 1917

Der Artikel erschien im Gernsbacher Boten, Ausgabe 3/1998 , verändert durch kleinere Aktualisierungen im Januar 2021. Daher ist auch nur die Literatur bis 1998 aufgeführt. Die Recherchen zur Familie Neter sind seit Erscheinen dieses Artikels weitergeführt worden und werden in einem Beitrag 2021 veröffentlicht werden.

Erste Ergänzung: 2012 wurde für ihn ein Stolperstein vor dem Fröbelseminar (Helene-Lange-Schule), der langjährigen Wirkungsstätte von Dr. Neter, verlegt.

Ein neuerer Beitrag über Eugen Neter wurde veröffentlicht in Baden-Württembergischen Biographien, BWB4, 245ff., 2007 von Andrea Hoffend